New Frontier Arktis: Wie China und Russland um Einfluss buhlen
Das Eis in der Arktis schmilzt dramatisch – schon 2035, weit früher, als Forscher noch vor zehn Jahren vermuteten, könnten große Teile eisfrei sein. Das hat auch zur Folge, dass im hohen Norden Seewege und Bodenschätze neu erschlossen werden können. Alteingesessene Arktisstaaten, aber auch sogenannte Beobachterstaaten, wollen deshalb baldmöglichst Fakten schaffen. Schon 2018 hat sich China in einem Weißbuch zur Außenpolitik deshalb als „Arktis-naher“-Staat definiert – und das, obwohl Dalian, Chinas nördlichster Hafen, gute 5.700 Kilometer vom Nordpol entfernt ist. Peking spricht im Zusammenhang seiner chinesischen Arktispläne auch von einer „polaren Seidenstraße“.
China ist vor allem daran interessiert, Ressourcen wie Seltene Erden und Uran abzubauen, zum Beispiel in Grönland, das von chinesischen Unternehmen schon länger mit Infrastrukturprojekten umschmeichelt wird. Aber auch eisfreie Seewege über das Nordpolarmeer sind für China als Ausweich- und Ergänzungsrouten zur Straße von Malakka und dem Suezkanal hochinteressant. 80 Prozent der chinesischen Ölimporte müssen momentan durch die Straße von Malakka, ein Nadelöhr, das von den USA und anderen Staaten im Konfliktfall leicht blockiert werden könnte.
Russland wird zum arktischen Sorgenkind
Auf geopolitischer Ebene war die Arktis seit dem Ende des Kalten Krieges ein Ort der Zusammenarbeit, die sich vor allem in gemeinsamer Forschung, etwa zur Biodiversität und zum Klimawandel, niederschlug. Probleme wurden im arktischen Rat gelöst, einem zwischenstaatlichen Forum bestehend aus Island, Norwegen, Finnland, Russland, USA, Kanada und – wegen Grönland – Dänemark. Sicherheitspolitik gehört bis heute nicht zum Mandat des Arktischen Rates. Dabei gelten Sicherheitsfragen seit Russlands Annexion der Krim und dem Einmarsch in die Ukraine auch hier als brennend.
Die Arktis ist wichtig für Russlands Anspruch auf Weltmachtstatus und militärisch eine Schlüsselregion zur Abschreckung und Verteidigung. Russland besitzt die längste arktische Grenze aller Anrainerstaaten, und Arktis sowie Subarktis umfassen ein Fünftel seiner Landfläche. 90 Prozent der russischen Gasförderung und 60 Prozent der Ölförderung finden dort statt, auch liegen hier rund 60 Prozent der russischen Gas- und Ölreserven. Russland betrachtet das Polargebiet zudem als Teil seines Festlandsockels, also als nahtlose Fortsetzung seines Territoriums unter Wasser, was zusätzlich für Territorialstreitigkeiten sorgt.
„Neue militärische Dynamik in der Arktis“
In den letzten Jahren hat Moskau seine militärischen Aktivitäten in der Arktis immer weiter hochgefahren. Russland führt im Norden fast jährlich große Militärübungen mit tausenden Soldaten, Flugzeugen, schwerem Gerät, Unterwasserdrohnen und U-Booten durch. Von reaktivierten Militärbasen aus dem Kalten Krieg können S-400-Mittelstreckenraketen starten, die Grönland und Alaska erreichen können. Auch MiG-31 Jagdflugzeuge und andere Kampfbomber können auf russisch beanspruchten Inselgruppen wie Franz-Josef-Land vom Nordpolarmeer aus starten.
In einem Strategiepapier sprach Schwedens Regierung 2020 von einer „neuen militärischen Dynamik in der Arktis“ und erhöhte den Verteidigungsetat um etwa 40 Prozent. Auch andere Staaten wie Finnland und Norwegen sind seitdem näher an die USA und die Nato gerückt. Durch seine Aufrüstung hat sich Russland also auch sicherheitspolitisch in der Arktis isoliert. Das Land ist zwar noch Teil des arktischen Rates. Allgemein wurden aber Kontakte aufs Mindeste heruntergefahren oder aufgekündigt. So finden zum Beispiel kaum noch Forschungskooperationen statt. Davon profitiert China, dem Russland immer mehr Zugang zu seinen Häfen und Hoheitsgebieten öffnet.
„Seit dem Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 ist Russland international zunehmend isoliert. Diese Isolation schwächt Russland als Großmacht, was China, als eine extrem statusbewusste Nation, klar ist“, sagt Erdem Lamazhapov vom Fridtjof Nansens Institut am Rande des derzeit in Island stattfindenden Arctic Circle Forums zu Table.Briefings. „In dieser Zeit der Schwäche hat China Russland geholfen, sein Gesicht zu wahren. Dazu gehören unter anderem ein Kooperationsabkommen der Küstenwache in Murmansk, sowie eine verstärkte militärische Zusammenarbeit, einschließlich gemeinsamer Marineübungen“, sagt der Analyst, der sich auf die sino-russischen Beziehungen in der Arktis spezialisiert hat.
Pragmatischer Partner Peking
Diesen Monat hat die chinesische Küstenwache erstmals zusammen mit russischen Schiffen eine Patrouille in der Arktis unternommen. Laut dem Staatssender CCTV erklärte Chinas Küstenwache, dass man so das „das Spektrum der Offshore-Einsätze erheblich erweitert“ und „die Fähigkeit der Schiffe zur Durchführung von Missionen in unbekannten Gewässern gründlich getestet“ habe. „Letztendlich sind diese Dinge aber eher symbolisch und haben keinen bedeutenden Einfluss auf die Arktis“, meint Analyst Lamazhapov.
Ein Strategiebericht des Pentagons warnt dennoch ausdrücklich vor einer verstärkten chinesisch-russischen Zusammenarbeit im Polargebiet, auch in Bezug auf die Dual-Use-Nutzung von Forschungsergebnissen, die China infolge seiner „wissenschaftlichen Diplomatie“ seit vielen Jahren in der Arktis zusammenträgt. Beim Arctic Circle in Island spricht Lisa Murkowski, US-Senatorin für den Staat Alaska, von einem „neuen kalten Hauch“ und der Gefahr eines „eisigen Vorhangs“ in der Arktis. Anfang Oktober wurde mit Mike Sfraga erstmals ein leitender US-Botschafter für arktische Angelegenheiten ernannt. China kontert wiederum, dass eine von den USA geführte Nato sich zunehmend in arktischen Gewässern breitmache. Aus nuklear-strategischer Perspektive stellt die Arktis tatsächlich eine verwundbare Nordflanke für China dar. Im Falle eines Krieges verlaufen die Routen amerikanischer Interkontinentalraketen, die auf China abzielen, über das Nordpolarmeer. Daher ist Peking unter anderem an der Entwicklung von Frühwarnsystemen in der Arktis interessiert.
Moskau will in der Arktis nicht Chinas „Junior Partner“ sein
Noch decken sich die Interessen der aus der Not geborenen Arktispartner, zuletzt beschlossen im Mai mit einer Joint Declaration. Ressourcen sollen gemeinsam gefördert werden, momentan vor allem Gas. Auch sollen fernöstliche Gebiete Russlands und nordöstliche Provinzen Chinas wie Heilongjiang und Jilin besser in die kommerzielle Nutzung der Arktis integriert werden. Langfristig könnte Russland, der weit erfahrene und besser ausgerüstete Staat in der Arktis, jedoch gegenüber China den Kürzeren ziehen.
Tatsächlich war Moskau, als China sich 2013 um einen Beobachterstatus im Arktischen Rat bewarb, bereits dagegen. Und auch heute noch will Russland Einfluss darauf nehmen, was China in der Region unternimmt, betrachtet chinesische Forschungsstationen und die wachsende Präsenz der chinesischen Xuelong-Eisbrecher mit Misstrauen. Militärische Informationen, die für Russland einen strategischen Vorteil darstellen, werden von Peking nicht immer freiwillig geteilt. Auch Fälle chinesischer Spionage gegen Russland sind bekannt.
China darf Russlands rote Linien nicht überschreiten
Hinzukommt, dass China seine Unabhängigkeit von Russland durch gezielte Investitionen und Aufrüstung seiner eisgängigen Marine- und Forschungsschiffe stetig vergrößert. Mit Wartungsverträgen für Eisbrecher und dem Ausbau von russischen Häfen durch chinesische Firmen ist China in einigen Bereichen sogar auf einem guten Weg, Russland von sich abhängig zu machen. Diese Dynamik könnte Russland in der Arktis bald schon zum Juniorpartner werden lassen – etwas, das Moskau kaum akzeptieren wird, wie Marc Lanteigne, Geopolitik-Experte an der Arctic University of Norway im Gespräch mit Table.Briefings, erklärt. „Dies ist keine Beziehung, die meiner Meinung nach auf lange Sicht Bestand hat, da Russland als arktischer Staat Vorrechte einfordert, während Peking die Arktis als neue strategische Grenze betrachtet.“
Falls China bestimmte rote Linien überschreitet, ist die Partnerschaft in der Arktis schnell passé, glaubt Lanteigne. „China würde für den russischen Partner diese Grenze etwa überschreiten, wenn es anfängt, auf einen größeren Zugang zu den Gewässern vor Sibirien zu bestehen oder mehr Zugang zur russischen Arktisküste zu bekommen. Auch wenn Peking eine Art von unabhängiger Arktispolitik entwickelt, in der Russland eine Art Abwertung erfährt, könnte die Kooperation sogar in Feindschaft ausarten.“