Death Metal im Land der Killing Fields

© Steve Porte

Plastiktüten hängen in den Büschen, brüchig wie poröse Haut. Kinder kauern daumenlutschend im Dreck. In der Luft liegt ein Geruch nach Kloake und verbranntem Gummi. „Flying Shit Town“, Stadt der fliegenden Scheiße, nennen die Mitglieder der kambodschanischen Death-Metal-Band Doch Chkae (Anm. d. Red.: Man spricht das „Dudsch Gai“ aus) ihren Slum. Er liegt knapp eine halbe Stunde vom Flughafen von Phnom Penh entfernt. Weil es in den mit Planen bespannten Bretterbuden keine Toiletten gibt, verrichten die Bewohner ihr Geschäft in Plastiktüten, die sie anschließend aus dem Fenster werfen. „Daher der Name der Stadt“, erklärt Sänger Theara. Seine Bandkollegen Vichey und Hing nicken. Es soll kein Witz sein, man sieht es an ihren unbewegten Gesichtern. Die Teenager haben hier in den Slums zwischen Müllsammlern, Drogendealern und Prostituierten ihre Kindheit verbracht.

Die Menschen leben vom Müllsammeln

Im Stadtteil Stung Meanchey befand sich bis vor kurzem die größte Mülldeponie Kambodschas. Familien aus allen Provinzen kamen hierher, um in den Abfalldünen verwertbares Material zu finden: Metalle, Plastik, Papier, Essen. Über 1.000 Tonnen wurden täglich abgeladen. An den Rändern wuchsen Hütten zur Slum-Vorstadt. Für Tausende Kinder wurde die Halde zur Heimat. 2009 legte die Regierung die Müllkippe still. Doch noch immer leben die Menschen hier vom Müllsammeln. Vergiftungen und Unfälle gehören zum Alltag. Der Vater von Gitarrist Vichey kam ums Leben, als ein Mülllaster ihn während des Mittagsschlafs überrollte.

Zwischen den Müllsäcken liegen Hunde in der Mittagshitze. Für nicht allzu abgemagerte Exemplare zahlen die Restaurants der Stadt bis zu 20 US-Dollar. Die Slumbewohner halten sie wie Vieh, das namenlos bleibt, auf die Verschläge aufpasst und eines Tages gegessen oder verkauft wird. Die Streuner, die von dem zehren, was andere wegwerfen, sind die Wappentiere der Band Doch Chkae: Der Name bedeutet „Hundeleben“, ein Ausdruck tiefster Abschätzigkeit und in Kambodschas junger Popkultur eine Ansage von nie dagewesener Radikalität. „I am crazy like a rabies dog / I hate my fucking life“ brüllt Sänger Theara im ersten Death-Metal-Song, der jemals in der Landessprache Khmer aufgenommen wurde. In einem ihrer Musikvideos springen die Bandmitglieder mit gefletschten Zähnen gegen das Gitter eines Käfigs, ihre kindlichen Gesichtszüge zu brutalen Fratzen verzerrt. Theara, Vichey und Hing sind 18, 17 und 15 Jahre alt. Wobei das nur geschätzt ist. Ausweispapiere wurden ihnen erst im Heim ausgestellt.Über 10.000 Kinder auf der Straße, viele arbeiten als Prostituierte

Das Elend der Müllkinder zieht immer wieder die Aufmerksamkeit der seit den 90er-Jahren zahlreich im Land vertretenen NGOs auf sich. Obwohl sich die Armutsrate zwischen 2004 und 2011 mehr als halbiert hat, ist Kambodscha nach wie vor auf humanitäre Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Das Bildungssystem hat sich von den vier Jahren unter dem Terrorregime der Roten Khmer noch immer nicht erholt. Es wurde dabei quasi abgeschafft, ebenso das Gesundheitssystem. Der Altersdurchschnitt liegt bei gerade mal 23,9 Jahren. Laut einer Schätzung von UNICEF leben allein in der Hauptstadt Phnom Penh über 10.000 Kinder auf der Straße, viele arbeiten als Prostituierte. Die Waisenhäuser und Bildungseinrichtungen der NGOs haben mittlerweile die Funktion eines sozialen Sicherheitsnetzes übernommen. Laut einer Studie der Columbia-Universität sind 80 Prozent der 49.000 in kambodschanischen Heimen lebenden Kinder keine Waisen im traditionellen Sinne. Theara und sein Halbbruder Hing wurden von ihrer Tante großgezogen, bis sie sich, ebenso wie Vicheys Mutter, den Unterhalt nicht mehr leisten konnte. Viele Familien trennen sich von ihren Kindern in der Hoffnung, dass die NGOs ihnen eine Perspektive oder zumindest eine vorübergehende finanzielle Entlastung bieten.

„Vichey hat eine Cousine, deren Mutter nur im Heim vorbeikommt, um zu sehen, ob sie schon Brüste hat, um sie mit auf den Strich zu nehmen“, erzählt Timon Seibel. Der 36-Jährige ist der Manager von Doch Chkae. Vor acht Jahren kam der Schweizer nach einem Philosophiestudium als Mitarbeiter der spendenfinanzierten NGO Chidbodia ins Land. Als Betreuer eines Kinderheims in einem Vorort von Phnom Penh hat er Theara, Vichey und Hing aufwachsen sehen. Die drei waren im Heim die Problemkinder. Besonders Theara fiel durch extremen Jähzorn auf. „Er flippte immer wieder wegen Kleinigkeiten aus. Trat Türen ein. Schlug Sachen kaputt“, erinnert sich Seibel. „Hing zog dann oft nach. Er wollte so sein wie sein älterer Bruder.“ Vor drei Jahren gelang es dem Heim, Thearas Vater ausfindig zu machen, einen Architekten, der in einem Vorort mit seiner Familie lebt. Sie sprachen kurz am Telefon, dann ließ der Vater die Betreuer wissen, dass sie ihn nie wieder anrufen sollen. Thearas Mutter habe als Prostituierte gearbeitet, und er wolle nichts mehr mit diesem Kapitel zu tun haben. Als Theara die Betreuerinnen ein paar Wochen später mit einem Küchenmesser bedrohte, waren sie kurz davor, ihn rauszuwerfen. Theara wäre heute längst wieder bei seinen drogendealenden Cousins auf der Straße, glaubt Seibel, wäre da nicht der Abend des 11. November 2014 gewesen.

Damals nahm der Erzieher Vichey, Theara und den minderjährigen Hing in eine Bar in der Innenstadt mit, „einfach weil sie die Ältesten und Aggressivsten waren und ich nicht weiterwusste“. In dieser Nacht spielte in der hauptsächlich von Ausländern frequentierten Show Box die Deathcore-Band Sliten6ix. Es war ein Erweckungserlebnis für die späteren Mitglieder von Doch Chkae. Bereits am nächsten Tag machten sich die Jungs, die bisher oft lethargisch in den Tag hinein lebten, im Internet auf die Suche nach mehr von dieser Musik. Seibel empfahl ihnen die Red Hot Chili Peppers, der Youtube-Algorithmus leitete sie weiter zu Rage Against The Machine und schließlich zur Deathcore-Band Slipknot. „Sachen, die mir schon zu krass waren“, sagt Seibel. Fast zeitgleich begannen die drei, diszipliniert zu proben. „Sie sind fast jeden Tag im Musikzimmer des Heims ausgerastet. Ich bin zwar mit Kunsttherapie und solchen Dingen vertraut, aber dass sie sich zu Metal dermaßen abreagieren würden, hat mich doch überrascht.“

Bei den ersten Auftritten im Heim: ungläubige Gesichter. „Die meisten Kambodschaner haben so eine Musik noch nie gehört“, sagt Theara. Im Gegensatz zu anderen asiatischen Ländern wie Indien oder Indonesien hat sich Metal in Kambodscha nie etabliert. Dabei war seine Bevölkerung wagemutig: Unter König Sihanouk erblühte in den 60er-Jahren die Popkultur, Miniröcke und langes Männerhaar gehörten zum Straßenbild von Phnom Penh, bis die Roten Khmer 1974 einen blutigen Feldzug gegen alles begannen, was sie als westlich dekadent empfanden. Rund 1,7 Millionen – einigen Schätzungen zufolge sogar noch erheblich mehr – Kambodschaner kamen in gerade mal fünf Jahren ums Leben. Ein unfassbarer, von der Regierung ausgehender Genozid, dem auch nationale Popstars wie der im ganzen Land bekannte Sinn Sisamouth zum Opfer fielen. Death Metal müsste mit seiner morbiden Ästhetik eigentlich zu sehr verstören im Land der Killing Fields. So nennt man die Stätten der Massenmorde. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb entwickelte sich die junge Band Doch Chkae zum Gesprächsthema. Nach Auftritten in der Show Box und einem Gastspiel beim in der Innenstadt stattfindenden Golden Street Festival besuchten Reporter die Band im Studio. Die „Phnom Penh Post Weekend“ erschien mit Theara auf dem Titelblatt. Überschrift: „Not The Same Old Song“. Die „Cambodia Daily“ schrieb, Doch Chkae verkörperten eine „neue Lust auf Khmer Metal“. „Gerade rechtzeitig“, findet Seibel.

2016 kündigte die immer repressiver auftretende Regierung unter Premierminister Hun Sen an, die Zahl der NGOs im Land drastisch zu reduzieren. Sie würden Proteste schüren und die Familie als kleinste Einheit der Gesellschaft unterwandern, hieß es. Viele NGOs glauben dagegen, dass die Regierung mittlerweile lieber Entwicklungshilfe der neuen Regionalmacht China annimmt, die an weniger Bedingungen und Kontrollmechanismen geknüpft ist.

„Es kommen Kinder von überall und wollen mitmachen“

Bandprojekte wie Doch Chkae könnten hier in Zukunft eine Vorbildfunktion einnehmen, meint Seibel, der neben seiner Arbeit als Sozialarbeiter nun auch eine Plattenfirma namens Yab Moung betreibt, die die Musiker zur Selbsthilfe ermutigen soll. „Jedes Bandmitglied ist Teilhaber und bekommt 120 Dollar im Monat, was ungefähr dem entspricht, was sie als Tellerwäscher in der Stadt verdienen würden“, so Seibel. Die Bandmitglieder lernen, die Produktion ihrer Musik selbst zu übernehmen, ebenso das Management und den Vertrieb. „Ich habe zu meinen Mitarbeitern gesagt: Seht es als Ansporn und gründet Unternehmen, die wiederum andere ausbilden.“ Dass Doch Chkae in der Stadt Konzerte spielen und sogar im Fernsehen waren, hat sich rumgesprochen. „Es kommen Kinder von überall und wollen mitmachen. Ich bin gespannt, ob Doch Chkae auch auf die Subkultur einen Einfluss haben wird als erste Death-Metal-Band, die auf Khmer singt und es zu etwas bringt“, sagt Seibel.

Einem Reporterteam erzählte Sänger Theara kürzlich, dass er anderen helfen wolle, die wie er im Schatten der Müllberge aufwachsen. Doch Chkae wollen in „Flying Shit Town“ bald ein Fundraisingkonzert geben. Es soll ein Musikraum für die Dorfkinder entstehen, den Theara leiten will. Statt Death Metal schwebt ihm jedoch etwas anderes vor: „Ich möchte ein Gangsta-Rap-Projekt starten und unsere Geschichte erzählen.“ Hip-Hop passt vielleicht noch besser in diese Lebenswelt. Als im Land bereits etabliertes Genre könnte Rap auch mehr Hörer erreichen.

Eine kleine Revolution haben Doch Chkae in ihrem Umfeld schon geschafft: Die Haus- und Hofhunde von der Plattenfirma Yab Moung haben mittlerweile alle einen Namen.

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