Vinyl in China – FROM TRASH TO TREASURE
Im Frühjahr 2018 gab China, jahrelang der weltweit größte Importeur von Abfall, bekannt, keinen Müll mehr aus anderen Industrienationen anzunehmen: Das Land sei mittlerweile reich genug, um nicht mehr auf die Rohstoffe aus dem Recycling angewiesen zu sein. Dass damit auch ein Stück moderner chinesischer Musikgeschichte zu Ende geht, wissen nur die wenigsten. Denn: Chinas junge Popkultur wuchs sprichwörtlich aus dem Mist.
Die Container, die jahrzehntelang im Perlflussdelta und anderen Küsten anlegten, transportierten nicht nur Wohlstandsmüll für die „Werkbank der Welt“ – wiederverwertbares Kupfer, Eisen und Papier –, sondern auch andere Schätze, nach denen vor allem Chinas Jugend lechzte: Musik. Große Plattenfirmen aus dem Westen und aus Japan verschifften ihre unverkauften Tonträger tonnenweise nach China, um sie dort als Restmüll an Recycling-Firmen loszuwerden. Doch statt in den Maschinen zu landen, die die Plaste einschmelzen und granulieren sollten, fanden Teile den Weg ins Herz eines Landes, das nach Jahren der Abschottung, dramatischer Krisen und ideologischer Grabenkämpfe endlich bereit schien, sich umfassend der Welt zu öffnen.
Wir schreiben das Jahr 1992. Drei Jahre nach der Niederschlagung der Studentenproteste am Pekinger Tiananmen-Platz reist der 87-jährige Staatslenker Deng Xiaoping ein letztes Mal durch Südchina, um in den Sonderwirtschaftszonen die neuen Kernziele der Partei zu predigen: Geld, Wachstum und Macht. „Reich werden ist ruhmreich“ ist das Motto, mit dem der Reformer die Privatwirtschaft nach Jahren der staatlichen Gängelung wieder ankurbeln will. Die Worte von Chinas grauer Eminenz fruchten: „Die einst totalitär gelenkte Masse hat sich in ein Heer von Unternehmern, Händlern und Konsumenten“ verwandelt, schreibt der „Spiegel“ bereits 1993. Und tatsächlich: Innerhalb eines Jahres wächst das Sozialprodukt um 12,8 Prozent, die Industrieproduktion sogar um 21 Prozent – Weltrekord. Als hätte es die Planwirtschaft nie gegeben. Ob es in dieser Atmosphäre der Liberalisierung Hafenarbeiter, Müllsammler oder Musikfans waren, die in den entsorgten Tonträgern zuerst das Geschäft erkannten, lässt sich heute nicht mehr nachverfolgen. Sicher ist jedoch, dass die CDs, Kassetten und in kleineren Mengen auch Schallplatten bald im ganzen Land in Untergrund-Läden, Elektronik-Märkten und Kartonboxen vor Universitäten auftauchten. Für viele junge Chinesen war es, als wären sie plötzlich im eigenen Hinterhof auf eine Goldader gestoßen.
Heute spricht man in China von ihnen als die „Dakou“-Generation. „Dakou“ heißt so viel wie „Sägespur“, denn die Hüllen der Tonträger-Überschüsse wurden vor dem Transport oft maschinell angeritzt und manchmal sogar mit einem Loch durchstanzt, um den Weiterverkauf zu verhindern. Das störte die musikhungrige Jugend, die mit Umweg über die Müllkippe endlich dem süßen und angepassten Pop des Mainstream entkommen konnte, wenig. Denn erstens waren die Tonträger in der Regel trotzdem hörbar, und zweitens gab es kaum Alternativen. Internet war noch kein Thema. Importe aus dem Ausland, aus Taiwan oder Hongkong, waren für die meisten zu teuer, und die von der staatlichen Import-Export-Behörde genehmigten Tonträger aus dem Westen beschränkten sich auf große Stars wie Mariah Carey oder Michael Jackson.
„Was immer dir geboten wurde, wurde der Soundtrack deines Lebens,“ erinnert sich Zhang Youdai an jene mageren Jahre. Der 52-Jährige ist in seiner Heimat so etwas wie der „chinesische John Peel“. Seit den frühen 90er-Jahren stellt er in seinen Radiosendungen neue und alte Musik aus allen Teilen der Welt vor und bietet aufstrebenden chinesischen Künstlern eine Plattform, auch wenn die gerade mal ein Demo vorweisen können. Während unseres Interviews in Zhangs Bar „Cloud 9“ im Nordwesten Pekings wird er immer wieder von jungen Gästen mit „Zhang Laoshi“ angesprochen – „Lehrer Zhang“. Als Zhang Mitte der 80er mit dem Musiksammeln anfing, war der Massenmarkt fest in der Hand chinesischer Popstars. Rockmusik war noch ein Novum. Der einzige Star hieß Cui Jian, eine Art Dylan-Figur, die alles überragte, aber mit der Niederschlagung der Studentenproteste nach 89 auch an revolutionärer Zugkraft verlor. Eine Ausdifferenzierung erlebte die alternative Musik in China erst in den 90ern dank der plötzlich überall auftauchenden Müllhalden-Ware, die auch vielen chinesischen Musikern schlagartig den Horizont erweiterte. Indie-Bands wie Carsick Cars, New Pants oder Hang On The Box ließen sich von „Dakous“ inspirieren, die die Händler meist zum Kilopreis einkauften, ohne vorher auszusieben. Besonders auf dem Boden der Container seien die Tonträger meist komplett unversehrt gewesen, erinnert sich Zhang. „Man wusste nie, was man bekommt! Mal hatte ein Schiff nur Heavy Metal geladen, mal ausschließlich experimentelle Musik. Es kam auch vor, dass die Regale plötzlich voll waren mit ein- und demselben Album!“ Die willkürliche Verknappung hatte den schönen Nebeneffekt, dass einige Bands, die es im Westen höchstens zum One-Hit-Wonder brachten, oder Alben, die man bei uns eher dem schwachen Spätwerk zurechnet, im Herzen der chinesischen „Dakou“-Generation bis heute einen besonderen Platz innehaben, etwa die amerikanischen Indie-Rocker Tripping Daisy oder das 1996er-Album „Generation Swine“ von Mötley Crüe, um nur zwei Beispiele zu nennen. Bei den Interpreten kam davon natürlich nie etwas an. Schlussendlich handelte es sich ja um nichts weiter als Restmüll. „Manchmal war eine einzige Kiste die reinste Goldgrube. Oft war aber auch kein einziges gutes Stück darunter“, erinnert sich Xiao Bing. Die 28-Jährige betreibt in Shanghai ein Label und einen Plattenladen. Ihre ersten Platten kaufte die HipHop-Liebhaberin ebenfalls in „Dakou“-Shops, recht wahllos, um mit dem Vinyl das Scratchen zu lernen. „Viele Händler waren normale Chinesen, oftmals ältere Leute. Die meisten wussten nichts von Musik, verstanden aber umso mehr von Angebot und Nachfrage“, erinnert sie sich. Umso beliebter ein Künstler war, desto höher war oftmals der Preis. Die Kunden eigneten sich ihr Wissen über Fanzines an, oder über Gespräche mit anderen Musikfans. „Oftmals haben wir ein Pokerface aufgesetzt, wenn wir eine besonders gute Platte entdeckten. Wir durften uns nichts anmerken lassen, damit der Händler nicht spontan mehr Geld verlangte.“
Mit dem Aufkommen des Internets, Torrent-Plattformen und Streaming-Diensten verschwanden die meisten Plattenläden in China wieder von der Bildfläche, Mainstream-Geschäfte mit Massenware ebenso wie die reinen „Dakou“-Shops. Die wenigen engen Ladenzeilen, die noch übrig sind, haben meist auf kopierte DVDs umgesattelt, führen aber mitunter auch noch Exemplare der angeritzten Schmuggelware. „Heute gehen die Container mit ‚Dakous‘ vor allem nach Indien oder Myanmar“, sagt Xiao Bing. Dort sind die Löhne mittlerweile billiger als in China, und es lohnt sich für die Recycling-Industrie noch, aus den oftmals hoch umweltschädlichen Abfällen die Rohstoffe zu extrahieren. „Gute ‚Dakous‘ findet man in China deshalb kaum noch. Was Sammler noch nicht aufgekauft haben, ist oft tatsächlich einfach nur Müll“, lacht Xiao Bing.
Den Einfluss der „Dakou“-Generation auf Chinas alternative Musikszene kann kaum unterschätzt werden. Einige Händler und Kunden von damals haben mittlerweile professionelle Plattenläden aufgezogen, mit Discogs-Katalog und gut informiertem Kundenstamm. Sie verkaufen die alten Schätze aus der Tonne, aber auch Backkataloge lokaler Künstler und Importe. Ganz legal operieren aber auch diese, in unserem Sinne „herkömmlichen“ Geschäfte hier bis heute nicht.
Als „Kulturgüter“ unterliegen Tonträger aus dem Ausland in China strengen Einfuhrgesetzen. Die Regierung möchte genau kontrollieren, welche Inhalte ins Land kommen. Theoretisch darf nichts ohne staatliche Lizenz veröffentlicht und verkauft werden. Und die ist nicht so leicht zu bekommen. „Nur die Regierung hat das Recht, Lizenzen zu vergeben. Wenn du also Tonträger verkaufen willst, kannst du theoretisch nur aus dem Sortiment wählen, das die entsprechenden Behörden bereits abgesegnet haben. Aus dem Ausland sind das dann hauptsächlich große Popstars wie Whitney Houston“, sagt Xiao Bing.
In ganz China gibt es heute gerade mal zwischen 10 und 20 Plattenläden, die sich auf Vinyl spezialisiert haben. Die meisten verkaufen importierte Ware nur in sehr kleinen Stückzahlen. „Du musst den lokalen Polizisten in der Nachbarschaft ein bisschen Geld geben. Dann hast du keine Probleme“, erklärt Zhang Youdai mit einem Augenzwinkern. Die meisten Plattenläden hätten solche Abmachungen, bekräftigt Xiao Bing. Sie selbst umgeht das System der „kleinen Gefälligkeiten“, indem sie ihren Shop in einer Privatwohnung im achten Stock eines Wohnkomplexes untergebracht hat. An der Tür weist nur ein winziges Schild daraufhin, dass hier mehr als nur gewohnt wird. „Wenn jemand kommt und sagt, ‚ihr dürft hier keine ausländische Musik verkaufen‘, kann ich sagen, dass es sich nur um meine Privatsammlung handelt. Niemand kann mir verbieten, meine persönlichen Second-Hand-Platten zu verkaufen.“
Einen Plattenladen in China zu haben, bedeutet Schlupflöcher zu finden, sich selbstbewusst in Grauzonen zu bewegen. Das ist umständlich, schafft aber auch Zusammenhalt und oft auch eine familiäre Atmosphäre: Bei Xiao Bing können die Kunden wie bei Freunden auf Sitzsäcken fläzen, Platten hören, Kaffee trinken, auf der Terrasse mit Blick über die Stadt eine rauchen oder die hauseigene Musikzeitung „Changpian Richang“ studieren, die Xiao und ihr Geschäftspartner vier Mal pro Jahr herausbringen. „Man lebt von Mund-zu-Mund-Propaganda“, sagt Xiao. „Wir müssen es so klein wie möglich halten.“ Das heißt leider auch, in ständiger Ungewissheit leben zu müssen: Jeden Tag könnte, was man sich mühsam aufgebaut hat, mit einer Razzia zunichte gemacht werden. „Wir wollen ja legal sein, aber das ist in China nicht so einfach“, so Xiao. Um einem Ausfall zuvorzukommen, haben sie und ihr Partner sich breit aufgestellt. Sie verkaufen nicht nur Platten, sondern helfen auch lokalen Künstlern, ihre Musik an Kunden in Europa, den USA und Asien zu bringen. „Es gibt kaum internationale Vertriebe für chinesische Musiker. Viele kommen deshalb auf uns zu.“ Daneben betreiben die beiden noch eine Service-Agentur, die DJs vermittelt und Medienfirmen in Sachen Background-Musik berät. Mit dem hauseigenen Label „Eating Music“ produzieren sie außerdem seit einiger Zeit selbst Platten – „so legal wie möglich“, wie Xiao Bing betont. „Wir versuchen einfach, für alles eine staatliche Lizenz zu bekommen.“ Dafür müssen sie der Kulturbehörde die Texte jedes Songs vorlegen, den sie veröffentlichen wollen, und wenn die auf Englisch sind, auch ins Chinesische übersetzen. „Tatsächlich sind die meisten unserer Releases Instrumental-HipHop-, Ambient- oder Elektronik-Tracks, haben also gar keine Lyrics oder nur sehr wenig. So ist es einfacher, an eine Lizenz zu gelangen.“ Wenn die Titel durchgehen, bekommen sie eine Katalog-Nummer. Pro Album kostet das rund 2000 Renminbi (umgerechnet 255 Euro), für einen einzelnen Track 500 (knapp 64 Euro). Ohne Weitblick und Business-Gespür verkalkuliert man sich da schnell. „Du musst schon vorher ziemlich sicher sein, wie viel du verkaufen kannst, bevor du dich um eine Lizenz bemühst, sonst wird es unwirtschaftlich.“ Zudem kann es passieren, dass je nach politischer Wetterlage oder aufgrund anstehender Großereignisse strenger geprüft wird als sonst. So geschehen etwa vor den Olympischen Spielen 2008, als zeitweise kaum noch Punkrock und ähnlich aggressive Underground-Musik lizensiert wurde. In solchen Zeiten wollen die Behörden keine Verantwortung übernehmen. „Wir alle kennen die Probleme mit der Kulturkontrolle“, sagt Xiao Bing und seufzt. „Die Regierung möchte deine Gedanken kontrollieren. Aber so einfach ist das natürlich nicht. Deshalb denke ich, dass es bei der ganzen Lizenzgeschichte vor allem auch ums Geld geht: Umso strikter das System, desto mehr können die Behörden verdienen.“
Was den Musikkonsum angeht, ist China heute noch umfassender als viele andere Länder ins digitale Zeitalter übergegangen. Streaming-Services wie Tencent Music, NetEase Music und Xiami bestimmen den Mainstream. Aber Vinyl ist auch in der Volksrepublik ein wachsender Nischenmarkt geworden. „Früher war China dem Westen immer zehn Jahre hinterher. Der Vinylhype kam jedoch nur mit einer kleinen Verzögerung bei uns an“, erklärt Zhang Youdai. Die Zahl der Vinyl-Sammler wächst. Und das nicht nur Im Indie-Bereich. Jazz-und Klassik-Alben gelten bei vielen neureichen Weltbürgern als Statussymbole, die wie guter Wein zu besonderen Gelegenheiten hervorgeholt werden.
„Vinyl ist für die meisten vor allem ein Lifestyle-Produkt, ein Collectors-Item, mit dem du zeigen kannst, wie individuell du bist“, sagt Zhang. „Die meisten Vinyl-Käufer haben nicht mal einen Plattenspieler zuhause. Ich kann das nicht leiden.“ Kein Wunder: Zhang musste seine Sammlung über viele Jahre mühevoll zusammenkaufen. Auf den Geschmack kam er in den 90ern, bei einem Aufenthalt in Schweden. „Im Sommer 1996 entdeckte ich in Stockholm einen 2nd-Hand-Plattenladen, auf dem groß ‚Ausverkauf‘ geschrieben stand. Als die CDs in Europa den Markt übernahmen, wollten viele ihre alten Platten loswerden und verkauften sie unter Wert. Für mich war das fantastisch!“ Die erste Platte, die Zhang in Europa kaufte, war „I‘m Your Man“ von Leonard Cohen. „Ich erzählte ungefragt, dass ich den weiten Weg aus China komme und das Album unbedingt haben muss“, erinnert er sich lachend. Es sollten noch viele tausende folgen, so viele, dass er sie nicht mehr zählen kann. „Bald wollte ich alle meine Lieblingsalben auch auf Vinyl haben. Beatles, Rolling Stones, David Bowie.“ Einen Plattenspieler hatte er damals ebenfalls noch nicht. „Ich musste die Alben ja nicht mehr abspielen. Die Musik hatte ich verinnerlicht, die konnte ich auch so hören, in meinem Kopf.“
In den 90er- und Nullerjahren unternahm Zhang noch viele weitere Reisen um die Welt, um Festivals zu besuchen und neue Musik kennenzulernen. „Ich tat oft so, als wäre mein Handgepäck total leicht, dabei war es voller schwerer Platten.“ Manchmal reiste er gleich mit leerem Koffer an und packte Musik ein, die noch so gut wie unbekannt in China war, etwa den pulsierenden Prog-Techno von Underworld, den Zhang durch den Soundtrack von „Trainspotting“ kennengelernt hatte. „Ich fand es total beeindruckend, dass die Dance-Music-DJs in Europa damals ausschließlich mit Vinyl auflegten. Dieses alte Medium für so eine futuristische Musik! Ich war auch fasziniert von dieser ganzen Kultur drumherum und begann selbst, immer mehr Dance-LPs zu kaufen. Vom Radio-DJ wurde ich so langsam zum Rave-DJ mit zwei Turntables und einer eigenen Partyreihe in Beijing.“ Zhang vermutet, dass er wahrscheinlich für einige Jahre der einzige Mensch in China mit einer modernen, internationalen Plattensammlung war. „Für mich ist Vinyl wie eine Zeitkapsel. Musik, die ich liebe, habe ich auf Kassette, auf CD und auf Platte. Alle in allen Formaten durchgehört habe ich aber tatsächlich noch nicht. Das mache ich, wenn ich in Rente gehe.“
„Heute gibt es in China zwei Arten von Sammlern“, sagt Shi Jing, der mit „Diggers Delights“ eines der größten Vinyl-Online-Foren des Landes unterhält. „Die einen sind Sammler, die vor allem klassische Musik kaufen oder teure Special Editions von Alben, die sie für Klassiker halten. Die anderen sind echte Digger, ständig auf der Suche nach Neuem.“ Der 42-Jährige ist einer der wenigen Pop-Gelehrten Chinas. Mit „The Bible of Hip Hop“ hat er ein chinesisches Standardwerk über HipHop-Kultur geschrieben. Bald erscheint sein zweites Buch, ein Guide für Funk-und Soul-Musik. In Shis Zuhause in Peking stapeln sich die Bücher. Vor den Regalen, die die ganze Wand einnehmen, hat der gläubige Buddhist einen Schrein aufgestellt. Das Heiligtum mit Räucherstäbchen und goldener Bodhisattva wacht dort über rund 4000 LPs, die er sich ebenfalls jahrelang mühevoll zusammensuchen musste. Die meisten Digger kämen, wie er selbst, aus der „Dakou“-Generation, sagt Shi. „Ungefähr zur Zeit als MP3s aufkamen, und keiner mehr CDs haben wollte, stießen sie auf Vinyl und dachten, ach ja, es gibt ja doch noch was zum Sammeln‘.“
Seine erste Platte kaufte Shi vor rund zehn Jahren, also gut fünf Jahre bevor der Vinyl-Hype in China losging, „einfach weil das Cover toll aussah“. Zu der Zeit ließen die meisten Käufer Schallplatten noch links liegen. „Deshalb konnte man damals noch echte Schnäppchen machen“, sagt Shi. „Ich erinnere mich, wie ich vor ungefähr sieben oder acht Jahren eine Smiths-Platte für gerade mal 30 RMB (circa 3,80 Euro) gekauft habe. Oder John Coltrane für 40 RMB. Oder zwei Box-Sets von Fela Kuti, jeweils zum Preis von 41 RMB. Wahnsinn.“ Xiao Bing ging es ähnlich. „Vor fünf, sechs Jahren hat man online auf E-Commerce-Seiten wie Taobao noch für wenig Geld fantastische Sammlungen mit Vinyl bekommen. Irgendwann zeigte mir dann ein Freund Discogs und ich begann den Wert der Platten auf dem internationalen Markt zu schätzen. Das war verblüffend. Ich fühlte mich ein bisschen, als handelte ich plötzlich an der Börse.“ Ihr seltenstes Stück ist eine japanische Fusion-Rock-Platte, die sie damals für 20 RMB erstanden hatte, umgerechnet 2,50 Euro. „Damals interessierte die Platte keinen. Heute ist sie ein begehrtes Stück und kommt bei Discogs auf 2000 US-Dollar.“ Shi bestätigt: „Früher hatten die Vinyl-Händler keine Ahnung, was sie verkauften. Heute schauen sie sehr genau, was sie aufkaufen und importieren.“ Er hält inne, nimmt die Brille ab und lacht: „Aber lass uns nicht über die Qualität reden. In China wird jede Platte sofort als ‚Near Mint‘ eingestuft. In dieser Hinsicht geht es noch nicht sehr professionell zu.“
Vor Ort wird Vinyl in China erst wieder seit ungefähr fünf Jahren produziert, in drei neu eröffneten Presswerken in Schanghai, Shenzhen und Guangzhou. „Große Plattenfirmen wie Universal und Sony lassen hier produzieren. Das macht es einfacher, die Lizenz für den chinesischen Markt zu bekommen“, sagt Zhang. „Viele Alben westlicher und chinesischer Popstars erscheinen heute oft auch in kleinen Stückzahlen auf Vinyl“, bestätigt Xiao Bing. „Es ist vielleicht nicht die beste Qualität auf der Welt, aber es ist auch sicher nicht die schlechteste.“
Neben den großen Presswerken, die zum Teil lange Wartezeiten haben, gibt es in China eine Szene semi-legal operierender Lathe-Cut-Produzenten wie HakHak aus Shenzhen oder Qiii Snacks aus Guangzhou. Sie bedienen vor allem kleine, unabhängige Labels. Für die Underground-Szene bietet Vinyl eine willkommene Gelegenheit, im prekären Musikmarkt noch etwas Geld zu verdienen. CDs kauft auch in China kaum jemand mehr. Streaming wirft noch weniger ab als im Westen. Gewinn machen Bands – nicht anders als bei uns – vor allem durch Konzerte, Merchandise und eben auch Schallplatten, die oft sehr aufwendig gestaltet sind. Xiao Bing hat einer ihrer Veröffentlichungen, einer auf 150 Stück limitierten weißen Vinyl-Edition des Elektro-Produzenten Knopha, eine Parfümprobe beigelegt. Der eigens komponierte Duft soll mit der ätherischen Ambient-Musik zu einem Gesamterlebnis verschmelzen. Auch wenn der Marke „Made In China“ weltweit noch immer das Ramsch-Image anhaftet – in Sachen Vinyl bekommt man was für sein Geld im Reich der Mitte. Die Platten vor Ort zu produzieren, ist aufgrund der Kosten, Risiken und bürokratischen Hürden jedoch nach wie vor nicht der beliebteste Weg. Viele Labels lassen ihre Releases lieber im Ausland pressen, auch wenn das bedeutet, Probleme bei der Einfuhr in Kauf nehmen zu müssen.
„So lange du die Stückzahlen klein hältst, gerätst du nicht in den Fokus“, erklärt Nevin Domer. Er spricht aus langer und oftmals leidvoller Erfahrung. Mit „Genjing Records“ hat er vor acht Jahren das erste DIY-Vinyl-Label Chinas gegründet. Auch sonst ist der 39-Jährige eine legendäre Figur in Chinas Rock-Underground. Der gepiercte, ansonsten aber eher unscheinbare Amerikaner kam 1999 zum Studieren nach China. Nach einem Intermezzo in Südkorea lebt er seit 2005 in Peking, wo er als Teil von „Maybe Mars“ – neben „Modern Sky“ das wichtigste Label für alternative Musik in China – Auslandstourneen für lokale Bands wie P.K.14 und Joyside organisierte. Als Booker des legendären, aber mittlerweile geschlossenen „D-22“-Clubs (unter anderem zu sehen in der Rock-Doku „Beijing Bubbles“) brachte er zudem hochkarätige Bands ins Reich der Mitte. Sein eigenes Label „Genjing Records“ startete er dann 2011 als Herzensprojekt im Geiste jenes DIY-Spirits, mit dem er in seiner Heimatstadt Baltimore als Teil der Hardcore-Szene sozialisiert wurde. „Genjing“, zu deutsch in etwa „Sporen“, hat sich auf Split-Singles spezialisiert, die chinesische und ausländische Bands zusammenbringen. Die Idee kam aus der Not heraus. „2006 spielte ich in Peking in einer Hardcore-Punk-Band namens Fanzui Xiangfa (übersetzt: „Gefährliches Gedankengut“)“, erzählt er uns in einem kleinen Theatercafé in der Nähe von Pekings Touristenmeile „Nanluoguoxiang“. „Wir wollten international touren, durch Südostasien und Europa. In China hat man mit Tonträgern schon damals nichts verdient. Aber wir wussten von Musikern wie Yang Haisong (P.K.14), dass viele Leute im Ausland Vinyl kaufen, um dich zu unterstützen. In der Underground-Punk-Szene im Westen war Vinyl ja nie wirklich weg.“ Domers Plan war, extra für die Tournee eine Split-Single mit einer befreundeten Band aus Malaysia aufzunehmen. „Ich fand jedoch kein Label in China, das Platten herstellen konnte, außerdem waren unsere Texte zu politisch, deshalb war mir bald klar, dass ich es wohl selbst in die Hand nehmen muss.“
Domer griff auf sein Netz an Kontakten in Europa und den USA zurück, um die Platte zu pressen. Weil er bald merkte, dass man von Promotern, Bookern und Kritikern schneller wahrgenommen wird, wenn man auch in China Vinyl am Merch-Stand anbietet, bot er seine Dienste bald weiteren Bands der Szene an. „Für viele waren unsere Platten vor allem Sammlerstücke. Nur eine Handvoll junger Leute hatte wirklich einen Schallplattenspieler zuhause“, erinnert sich Domer. Am Anfang verkaufte er die Geräte deshalb gleich mit. „Koffergeräte mit Batterie und eingebauten Lautsprechern aus Guangzhou. Die Qualität war wirklich beschissen. Ich hab‘ es dann schnell wieder sein lassen“, sagt er lachend.
Bis heute hat „Genjing“ rund 50 Split-/-Inches mit einer Stückzahl von je 500 Exemplaren veröffentlicht, und das obwohl Domer als Kind der CD-Generation eigentlich kein besonderes Verhältnis zu Vinyl hat, wie er sagt. Dass er mit „Genjing“ trotzdem seinen Teil zum Vinyl-Trend in China beigetragen hat, erfüllt ihn mit Stolz. „Seit zwei Jahren wachsen endlich meine inländischen Verkäufe. Das ist sehr befriedigend zu sehen“, sagt er. Seine limitierten, schön aufgemachten Sammlerstücke, darunter auch solche mit bekannteren chinesischen Bands wie Demerit, Duck Fight Goose, Round Eye oder Snapline, wurden mit der Zeit auch international immer gefragter. „Ich habe drei bis vier Bestellungen pro Woche, zum Beispiel über Bandcamp.“
Den Großteil der Veröffentlichungen lässt Domer in Tschechien und den USA pressen. Gelagert werden sie in einem kleinen Depot in der Nähe von L.A., von wo aus ein Freund sie an Kunden und Plattenläden auf der ganzen Welt verschickt. Lokal in China zu produzieren, kommt für Domer kaum in Frage. „Für mich ist das schwierig, weil viele Bands auf den Split-Singles aus dem Ausland kommen. Die können diesen Prozess der staatlichen Lizensierung in China nicht so einfach durchlaufen. Ihnen fehlen die Identifikationsnummern und all das bürokratische Zeug, das man vorlegen muss.“
Die Exemplare, die für China bestimmt sind, schickt er meist mit Umweg über die Sonderwirtschaftszone Hongkong, wo keine Import-Steuern anfallen und die chinesische Zensur für Kulturgüter nicht greift. Von dort verteilen sie weitere Freunde dann auf Pakete zum Weiterversand nach Festlandchina. „Auf diese Weise bleiben höchstens kleine Stückzahlen im Zoll hängen.“ Seit Xi Jinping an die Macht kam, hätten die Kontrollen im Land zugenommen, sagt Domer. „Es wird viel strenger und effektiver geprüft, was reinkommt. Früher musstest du höchstens mal Steuern nachzahlen, heute wird die Ware gleich eingestampft, wenn du Pech hast.“ Zhang Youdai hat ähnliche Erfahrungen gemacht: „Früher hat man dich am Zoll durchgewunken oder höchstens Witze über den ‚ganzen Müll‘ gemacht, den du da im Koffer hattest. Heute bekommt man Probleme, wenn man zu viele Platten mitbringt. Dabei ist es doch mein Job, die den Leuten vorzustellen!“
Mit dem Amtsantritt von Xi Jinping im Jahr 2013 ist für zivilgesellschaftliche Freiheiten eine neue Eiszeit angebrochen. Das betrifft auch das kulturelle Leben. Nie hat ein Land so viel Geld und Manpower in den Zensurapparat investiert wie das heutige China. Nirgendwo sonst gibt es so viele Überwachungskameras wie hier. Im Internet werden kritische Meinungen mittlerweile mithilfe von künstlicher Intelligenz herausgefiltert. In der Öffentlichkeit haben die Menschen sich Selbstzensur angewöhnt. Wer nicht auffällt, kann in China ein gutes Leben führen. Andere Perspektiven, besonders solche aus dem Westen, werden jedoch stark unter die Lupe genommen. Pro Jahr dürfen in China nur 34 ausländische Filme in den Kinos gezeigt werden. Konzerte ausländischer Bands sind nur gestattet, wenn sie Wochen vorher ihre Texte und Videos bei den Behörden einreichen und „heikle“ Inhalte gegebenenfalls aus dem Programm streichen. Immer wieder kommt es zu kurzfristigen Absagen. Eine Grund-Paranoia haben alle, die sich in China abseits des Mainstream bewegen.
„Einmal wurde ich am Flughafen rausgezogen und musste den Beamten Auskunft geben, was das denn da für Inhalte auf den Platten in meinem Koffer sind“, erinnert sich Domer an einen brenzligen Fall. Insbesondere eine LP, ein Split-Release für die Noise-Bands Torturing Nurse und Primitive Calculators, erregte die Aufmerksamkeit der Zöllner. Auf dem Cover sind zwei applaudierende Kommunisten im Mao-Anzug abgebildet – mit ausgeschnittenen Gesichtern und banalen Zeitungsausschnitten überklebt.
„Die Beamten haben sich bestimmt 20 Minuten lang die Hülle angesehen und dann online nach der Band gesucht. Am Ende haben sie sich sogar die Musik angehört – brutalster Harsh Noise! Und das ohne mit der Wimper zu zucken, während ich nervös danebenstand“, so Domer. Noch immer muss er über die Episode nervös lachen. „Ich habe natürlich nicht erwähnt, dass ich die Platte selbst produziert habe. Ich erklärte, es handelt sich um ein Geschenk für einen Freund.“ Am Ende kamen die Zöllner zu dem Schluss, dass vor allem das Cover „inappropriate for China“ sei: Einfuhr verweigert.
Der ganze Aufwand, das Versteckspiel und die Suche nach Schlupflöchern, schlägt sich natürlich auch im Preis nieder. „Ich habe pro LP vor allem wegen der Kosten beim Versand rund 200 RMB (rund 26 Euro) veranschlagt“, sagt Domer. Geld verdiene er damit trotzdem nicht. „Ich verliere eher welches.“ Das Vinyl-Business ist für Nischen-Labelmacher wie ihn vor allem ein idealistisches Hobby. „Ich komme aus einer DIY-Underground-Szene. Die Bands, die ich veröffentliche, sind meine Freunde. Ich kann viele verschiedene Musiker unterstützen, das macht es für mich interessant.“ Wachsen kann man damit kaum. Denn in China gilt: Umso größer man wird, umso angepasster muss man sein. „Ich versuche den Kopf unten zu halten und nicht allzu sehr aufzufallen. Mit politischen Inhalten bin ich ebenfalls sehr vorsichtig“, sagt Domer. Die durch Ungewissheit geschürte Furcht, dass es potentiell jeden treffen könnte, ist Kalkül. In China gibt es ein Sprichwort, das gut passt: „Töte das Huhn, um den Affen zu erschrecken“ – Wenn du zu groß und zu laut wirst, kann es passieren, dass ein Exempel an dir statuiert wird. „Ich hatte oft Angst all meine sorgsam gesammelten Platten zu verlieren und darüber hinaus auch noch Strafe zahlen zu müssen“, sagt auch Zhang Youdai. Aufhören will jedoch keiner von ihnen. „All das in Kauf zu nehmen ist immer noch besser, als einem Beruf nachzugehen, den man nicht mag“, sagt Xiao Bing.
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Turbulente Zeiten
Bei allen Schikanen und Hürden, die man als Musikliebhaber und Platten-Produzent in China zu ertragen hat: Eine Rückkehr in maoistische Zeiten ist es dennoch nicht. Denn die Geschichte des Vinyl begann in China tatsächlich schon lange bevor Musikverrückte in den Neunzigern ausgemusterte Platten aus dem Müll klaubten.
Erste Schellack-Platten, die als Exporte für den chinesischen Markt bestimmt waren, erschienen bereits um das Jahr 1903. Firmen wie Beka, Victor, Columbia, Odeon und Pathè hofften – nicht anders als heute – in China Millionen potentielle Kunden erreichen zu können. Schon vor dem Sturz der Qing-Dynastie 1911 und dem Übergang zur Republik hatte sich das Land westlichen Ideen und westlichen Innovationen geöffnet – notgedrungen: Nachdem die Briten China 1874 mit Waffengewalt zur Öffnung gezwungen hatten, folgten bald weitere Kolonialmächte, um „den kranken Mann Asiens“ weiter zur Ader zu lassen. „Solange wir die Imperialisten nicht schlagen können, sollten wir wenigstens von ihnen lernen“ lautete das Motto vieler chinesischer Intellektueller. Das hatte schon in Japan gut funktioniert, das nach einem raschen Modernisierungsprozess sogar Russland in einem Krieg geschlagen hatte. Musik war ein integraler Teil dieses Lernprozesses. In Deutschland geschulte Bildungspolitiker wie Xiao Youmei, Wang Guanqi und Cai Yuanpei vertraten die Ansicht, dass das Deutsche Reich nicht zuletzt durch die Kraft der Musik so schnell zu den anderen großen Weltmächten aufschließen konnte. Schon in den ersten überlieferten chinesischen Schriften zur Musik wurde auf die enge Beziehung zu guter Staatsführung hingewiesen. Für Konfuzius war Musik eines der wichtigsten Mittel, um die moralische Erziehung der Bürger zu gewährleisten. Unter diesen Prämissen wurden die großen Küstenstädte Chinas in den 20er-Jahren zu Laboratorien der Moderne. Ein Grundwissen über Klassik, Jazz, Gesellschaftstanz- und Marschmusik gehörte in den höheren Gesellschaftsschichten bald zum guten Ton. In Shanghai, dem kosmopolitischen „Paris des Ostens“ gab es eines der besten Orchester in ganz Asien, geleitet vom Italiener Mario Paci, der an den Konservatorien in Neapel und Mailand studiert hatte. Auch Grammophone, um das Jahr 1890 erstmals in China eingeführt, waren in den 20er-Jahren omnipräsent in der vergnügungssüchtigen Stadt.
Das erste Schallplattenwerk Chinas wurde von der französischen Plattenfirma Pathé-Orient zu Beginn der 20er-Jahre am Rand der französischen Konzession in Shanghai eröffnet. Die Fabrik, die mit dem japanisch-chinesischen Joint-Venture „Great China Records“ schon 1923 Konkurrenz bekam, produzierte gut 300.000 Schallplatten pro Jahr. Dabei wurde nicht nur westliche Musik in Umlauf gebracht: Befeuert vom aufkommenden Rundfunk und einer noch jungen Filmindustrie machten chinesische Titel bald das Hauptgeschäft aus, darunter Volkslieder, Stücke aus der Peking-Oper und sogenannte „Sing-Song-Musik“, gesungen von chinesischen Kurtisanen, von denen einige damals mit Liebesaffären und modischen Extravaganzen die Schlagzeilen der Tagespresse beherrschten – Influencerinnen ihrer Zeit.
Der japanisch-chinesische Krieg von 1937 bis 1945 und der anschließende Bürgerkrieg setzten der kosmopolitischen Blütezeit der Republik und damit auch dem Boom der chinesischen Plattenindustrie ein Ende. Als Mao Zedong Anfang Oktober 1949 auf dem Pekinger Tiananmen-Platz die Volksrepublik ausrief, war es mit der Musikproduktion jedoch nicht vorbei. Bereits im Mai des Jahres hatten die Kommunisten das Werk der „Great China“ in Shanghai besetzt und sieben neue Tonträger produziert, die den Soundtrack zur Befreiung liefern sollten, darunter Titel wie „Die Armee marschiert vorwärts“ und „Der Himmel in den befreiten Gebieten“. Für den Großen Vorsitzenden Mao war jegliche Art von Kunst ein Mittel, um die Massen zu erziehen und ein Bewusstsein für den Klassenkampf zu säen. Unter den Kommunisten wurden die Produktionsanlagen verstaatlicht, die alten Plattenfirmen gingen in der „China Record Corporation“ (CRC) auf, die ähnlich wie „Amiga“ in der DDR das Staatsmonopol innehatte. Vermeintlich überkommene, „feudale“ Musiktraditionen wurden mehr und mehr durch Revolutionslieder ersetzt, die beinahe das komplette Repertoire ausmachten. Während der Kulturrevolution, die zwischen 1966 und 1976 wütete, artete die Jagd auf „alte Übel“ dann schließlich zur Hysterie aus. Traditionelle Lieder, Schlager aus der Republikzeit und westliche Interpreten wurden als „dekadent“, „revisionistisch“ und „imperialistisch“ gebrandmarkt. Der Besitz westlicher Instrumente, westlicher Kleidung oder ausländischer Diplome reichte, um als „Rechtsabweichler“ oder Spion entlarvt zu werden. Allein am Shanghaier Konservatorium nahmen sich in den ersten Monaten nach Anbruch der Kulturrevolution 18 Musiklehrer das Leben. Als Alternative zu den „bourgeoisen“ Klängen, erfand Maos Ehefrau Jiang Qing damals die sogenannten „Modell-Opern“, ideologisch bereinigte Tanzdramen voll revolutionärer Helden und heimtückischer Feinde der proletarischen Revolution. Henry Kissinger, der als US-Sicherheitsberater beim legendären Nixon-Staatsbesuch 1972 in den Genuss einer solchen Oper kam, beschrieb sie als Kunstform „verblödender Langeweile“: „Die Bösen trugen schwarz, die Guten rot, und soweit ich erkennen konnte, verliebte sich das Mädchen am Ende in einen Traktor“, heißt es ins einen Erinnerungen.
Inmitten der vielen Säuberungskampagnen konnte es auch leicht passieren, dass die falschen Platten im Schrank zur Frage von Leben und Tod wurden. Sammler verbrannten ihre wertvollen Stücke von früher oder vergruben sie in der Hoffnung auf bessere Zeiten im Garten. „In meiner Jugend war Musikhören eine Heimlichtuerei“, erinnert sich Herr Gu an die bewegte Zeit. Der schlanke 72-Jährige hat alle Höhen und Tiefen, alle Hoffnungen und Enttäuschungen, die China im 20. Jahrhundert durchmachte, am eigenen Leib erfahren. 1947, zwei Jahre vor Gründung der Volksrepublik, wurde er inmitten der Wirren des Bürrgerkriegs in eine weltoffene Familie geboren. Sein Vater war Bankangestellter, seine Mutter Lehrerin. „Meine Eltern liebten die Peking-Oper. Mein elf Jahre älterer Bruder ging leidenschaftlich gern auf Tanzbälle. Wir nannten das damals „leichte Musik“, erzählt uns der Klassikliebhaber in einem Café in der North Shaanxi Road, einst eine der schicksten Ausgehstraßen im alten Shanghai. „Vor der Kulturrevolution waren unverfängliche Stücke, etwa traditionelle Opern, noch erlaubt. Danach gab es nur noch Musik, die für die ‚Befreiung des Volkes‘ komponiert wurde“, sagt Gu. „Man traute sich nicht mehr, die alten Platten abzuspielen. Bei uns zuhause sind die dann langsam im Keller verschimmelt.“
Während der Kulturrevolution arbeitete Gu, damals in seinen 20ern, für die staatliche „China Record Corporation“. „Ich war Druckermeister in der Fabrik, wo die Plattencover hergestellt wurden, und zudem Mitglied der Propaganda-Abteilung.“ Zu unserem Gespräch hat Herr Gu einige der alten Plattenhüllen mitgebracht, die damals in seiner Arbeitseinheit hergestellt wurden: schön verzierte Papier-Sleeves mit klassischer chinesischer Tuschemalerei und dem CRC-Logo mit Tiananmen-Tor und Drachensäule. Zu unserem Erstaunen sind einige davon englisch beschriftet. Gu erklärt warum: Ähnlich wie Maos Rotes Buch wurden viele der Schallplatten über einen staatlichen Propagandaverlag auch ins Ausland verkauft – „zur Befreiung der proletarischen Völker weltweit“.
Wie für viele Chinesen seiner Generation war die Kulturrevolution für Gu eine prägende Erfahrung. Einerseits wollte man dazugehören, brannte für die Sache, andererseits wusste man, dass man jederzeit selbst als „Kapitalist“ kritisiert werden konnte – vor allem mit einem Familienhintergrund wie seinem. „Die strengen Kontrollen der Partei umfassten auch die Eltern und Großeltern. Man sagte: ‚Nur aus aufrechten Wurzeln erwachsen rote Sprösslinge‘“, erinnert sich Gu, während er sich die Intellektuellen-Brille zurechtrückt. Hinter dem dünnen Gestell blitzen wache, fröhliche Augen. Es ist alles lange her, und doch sieht man noch den jungen Mann durchscheinen, der Musik schon immer über alles liebte, und früh lernte, das Beste aus den Umständen zu machen. Die oftmals unerreichbar hohen politischen Ansprüche der „Roten Garden“ konnten ihn jedenfalls nicht davon abhalten, weiterhin verbotene Musik zu hören. „Als Mitglied des Propaganda-Teams hatte ich freien Zugang zum Medienraum. Dort fand ich hunderte von Schallplatten. Das meiste war vom Geschmack der Arbeiter, Revolutionsmusik und patriotische Opern, also nicht ganz meiner“, so Gu. „Man fand dort aber auch noch Kompositionen mit romantischer Liebe als Hauptmotiv oder westliche Opern wie ‚La Traviata‘“. Da es verboten war, diese Platten zu spielen, fiel es auch nicht auf, wenn sie fehlten, sagt Gu und grinst spitzbübisch. Heimlich nahmen er und ein befreundeter Kollege die verbotenen Platten mit nach Hause, um sie dort über den Output-Kanal der Plattenspieler zu kopieren. „Leere Tonbänder konnte man damals noch kaufen, auch wenn sie sehr sehr teuer waren. Auf ein Band gingen dann aber auch gut drei Stunden Musik.“ Zuhause spielten sie die Bänder leise und nur bei geschlossenen Fenstern. Manchmal kamen Freunde vorbei, Künstler, die zu den Klängen klassischer Musik malen wollten. Eine Weile ging das gut. Bis eines Tages doch „ein kleiner Unfall“ passierte, wie Herr Gu es ausdrückt. „Einmal nahmen wir in der Eile aus Versehen eine Shanghai-Oper-Platte aus dem Büro mit. Eine Mitarbeiterin aus dem Radio-Team hatte ein Faible für diese Musik. Deshalb fiel ihr auf, dass da eine Platte fehlte. Kurz darauf flogen wir auf und wurden öffentlich als ‚Verherrlicher des Feudalismus‘ und ‚Söhne von Kapitalisten‘ an den Pranger gestellt.“
Herr Gu hat keinen Groll in der Stimme, als er von dieser dunklen Zeit erzählt. Die Geschichte seines Landes ist auch seine Geschichte, und die Tatsache, dass China seitdem so weit gekommen ist, erfüllt ihn mit Stolz. „Ideologie stand immer im Zentrum. Aber China hat sich verändert, die Gesellschaft hat sich modernisiert. Heute verhindert die Regierung nicht mehr die Vielfalt der Musik.“
Nach Maos Tod und der Verurteilung der „Viererbande“ um Jiang Qing, die als Sündenbock für die Kulturrevolution verantwortlich gemacht wurde, öffnete sich China tatsächlich bereits Ende der 70er-Jahre. Der rehabilitierte Reformer Deng Xiaoping forderte, dass alle Anstrengungen des Volkes nun nach ihrem Beitrag zur Modernisierung des Landes beurteilt werden müssten. Das galt mit Abstrichen auch für das kulturelle Leben, das sich nun nicht mehr komplett von außen abgeschottet abspielte. „Nach der Kulturrevolution ging es schnell. Verwandte brachten Kassetten von Sängerinnen wie Teresa Teng (eine Schnulzen-Sängerin aus Taiwan – Anm. d. Autors) aus Hongkong mit. Gehört hat man sie aber immer noch heimlich. Man war sich nicht ganz sicher, ob man der Sache trauen kann“, erinnert sich Herr Gu.
Um das Volk zuhause und die Welt da draußen von den Modernisierungsabsichten zu überzeugen, wagte das chinesische Kulturministerium Anfang der Achtziger einen Paukenschlag, der kaum moderner hätte ausfallen können: Nur ein Jahr nach dem Schauprozess gegen Jiang Qing, durfte Jean-Michel Jarre 1981 als erster westlicher Pop-Musiker überhaupt in China auftreten. Der langhaarige Franzose reiste mit 15 Tonnen Bühnentechnik an. Im dandy-weißen Anzug spielte er fünf Stadionkonzerte, verschanzt hinter raumgreifenden Keyboard-Burgen, während die bunten Strahlen einer Laserlicht-Orgel in den Gläsern seiner Sonnenbrille tanzten. „Diese Show wäre auch in London, Paris oder New York futuristisch gewesen, im China von damals war es ungefähr so, als sei ein Alien gelandet“, erinnerte sich Jarre Jahre später.
Herr Gu war einer der Glücklichen, der den Außerirdischen aus dem Westen aus der Nähe erleben konnte. Über seine Arbeitseinheit bei der staatlichen Plattenfirma hatte er ein Ticket für die Shanghaier Konzerte ergattern können. „So was hatte man bei uns noch nie gesehen. So viele Bass-Boxen, wohl 10 bis 20 Stück allein an einer Seite. Und all die Kabel auf dem Boden!“ Jarre, der die Tour aus eigener Tasche bezahlt hatte, erlaubte es den Chinesen sogar, seine Musik ohne Tantiemen auf Platte zu pressen. „Das wird uns den Markt öffnen“, erklärte sein PR-Agent nach der Tour gegenüber dem „Spiegel“. „Damals kam sukzessive die westliche Kultur nach China“, bestätigt Herr Gu. „Es war, als hätte man die Fenster zur Welt geöffnet, aber noch nicht die Türen.“
Leider schlossen sich bald nach dem Jarre-Konzert auch die Fenster wieder für eine Weile, scheinbar mitsamt der Gardinen. Um das Jahr 1983 gewannen die Partei-Hardliner erneut die Oberhand, die von so viel Reformwillen Panik bekommen hatten. Eine Kampagne gegen „geistige Verschmutzung“ und „Kulturelle Kontaminierung“ wurde ins Leben gerufen. Für chinesische Künstler wurden Auftrittsverbote wieder Alltag. Ausländische Musiker kamen nur noch sehr sporadisch ins Land. Auch mit den Schallplatten war es vorbei. In den 80er-Jahren, als es keinen Markt mehr für die altmodische „rote“ Musik gab, und CDs aufkamen, wurden die Press-Maschinen ins Ausland verkauft, vor allem nach Japan. „Keine Angst zu haben beim Abspielen fremder Musik war erst Ende der 80er möglich“, sagt Herr Gu.
Von den „Dakou“-Platten, die wenig später ins Land kamen, hat er schon mal gehört. „genau kenne ich mich damit aber nicht aus.“ Ob er heute noch oft die alten Platten hört? „Nein, kaum noch“, sagt er und rührt gedankenverloren in seinem Kaffee. Aber bei all den Geschichten von früher kämen ihm doch einige Erinnerungen wieder hoch. „Ich sollte mir wieder eine Bandmaschine anschaffen“, sagt Herr Gu. „Um noch einmal die alten Bänder von damals zum Leben zu erwecken.“