Wuhan, Brutstätte von Punk und Corona
Noch keinerlei Berührungsängste: Die Berliner Band Bonaparte in Wuhan, 2013
Foto: Sebastian Mayer
Das Image als Virus-Brutstatt, als apokalyptisches Zentrum einer Epidemie, wird Wuhan so schnell nicht wieder loswerden. Dabei galt die Industriemetropole im Herzen Chinas lange vor allem als Hort der Rebellion. Hätte man geschichtsbewusste Chinesen vor dem Coronavirus auf die Bedeutung ihrer Heimatstadt angesprochen, hätten sie vom Wuchang-Aufstand erzählt, dessen Schüsse im Oktober 1911 das Ende des Kaiserreichs besiegelten. Musikfans hätten dagegen ohne zu zögern „Wuhan Punk City!“ gerufen, vielleicht sogar die Faust dabei in die Luft gereckt. Denn hier in der Elf-Millionen-Stadt soll Mitte der 90er-Jahre der Punk chinesischer Prägung seine Geburtsstunde erlebt haben – durch die zähe kulturelle Öffnung der Volksrepublik zwar deutlich später, aber genauso rau, geradezu räudig, wie in den späten 60er-Jahren im „Detroit Rock City“ von MC5 und Iggy Pops Stooges.
Ob das so genau stimmt, oder ob man doch zuerst in Peking Pogo tanzte, lässt sich nicht mehr definitiv ermitteln. Unbestritten ist jedoch, dass die Szene in Wuhan chaotischer, aber auch härter und authentischer war als in der Hauptstadt. Im Gegensatz zu Peking, wo die jungen Punks oftmals der Mittel-und Oberschicht entstammten, kamen jene aus Wuhan meist aus der Arbeiterklasse. Armut und Drogenprobleme, insbesondere mit Heroin, waren hier nicht nur Pose. Die Punks der ersten Generation sahen mit ihren löchrigen Klamotten, den schlechten Tätowierungen und den Irokesenschnitten aus wie Gangs. Ihr Anführer, der „leader of the pack“, war der im Hankou-Viertel von Wuhan aufgewachsene Wu Wei. Seine 1996 gegründete Band SMZB zählt bis heute zu den legendärsten Rockbands Chinas, nicht zuletzt deshalb, weil niemand es in den letzten 24 Jahren geschafft hat, Wu zum Schweigen zu bringen. Selbst wenn Polizisten im Publikum sind, brüllt er gegen den Staat an, gegen das Vergessen der Tiananmen-Toten, gegen Überwachung und kommunistischen Personenkult.
„Es gibt hier nur eine Partei, und ich bin ihr Feind“, heißt es im Song „Born In The PRC“. Und in „Waiting For This Day“ träumt Wu, begleitet von Mundharmonika und Sägezahngitarren, von mehr Demokratie und Rechtsstaat. Das hat im streng hierarchischen Ein-Parteien-System der Volksrepublik wirklich etwas von Anarchie. Auch während der gegenwärtigen Virus-Krise schießt der mittlerweile 45-jährige Wu gegen die Obrigkeit: „Die Regierung trägt die Verantwortung dafür, dass sich die Epidemie so sehr ausbreiten konnte“, sagt Wu WELT AM SONNTAG am Telefon. „Die vielen Ungereimtheiten sind typisch für diese Diktatur, die sich um Menschenleben und Humanität nicht schert.“
Als seine Heimatstadt abgeriegelt wurde, war Wu gerade auf Reisen in Europa. Jetzt sitzt er in Portugal fest und kann nicht zurück. „Ich mache mir Sorgen um meine Freunde und Familie. Auch wenn ich an einem relativ sicheren Ort bin, habe ich keine Lust rauszugehen oder aufzutreten.“
Von der idealistischen alten Garde der frühen Neunziger ist in Wuhan nur noch SMZB übrig geblieben, längst nicht mehr in Originalbesetzung. Mit Wus radikaler Haltung gingen nicht alle Bandmitglieder mit. Chinas wachsender Wohlstand hat in den letzten Jahren auch die Karrierechancen für Musiker erhöht – vorausgesetzt, man eckt nicht zu sehr an. Heute haben sich viele Rockbands bequem eingerichtet im Land, das einem „sehr geräumigen Käfig“ gleicht oder „einer Leine, die so lang ist, dass man sie manchmal fast ignorieren kann“, wie es Kang Mao, die Sängerin der in Wuhan gegründeten Band Subs einmal ausdrückte. Erst im vergangenen Jahr erlebte die alternative Rockmusik in China durch die überraschend erfolgreiche Castingshow „The Big Band“ eine Renaissance im Mainstream. In der von einem Joghurt-Hersteller gesponserten Show treten alte und neue Indie-Rock-Gruppen gegeneinander an, ihr Sound ist geglättet, das Raue überschminkt, die Inhalte unverfänglich.
„Das interessiert mich alles nicht“, sagt Wu Wei knapp, ohne dabei allzu bitter zu klingen. Für ihn bleibt Musik eng mit gesellschaftlichem Engagement verknüpft, das sich oft an konkreten Vorgängen in seiner Heimatstadt entzündet.
Lebendige Gegenkultur
2010 etwa stemmte sich Wu Wei mit anderen Musikern gegen eines der vielen „Revitalisierungsprojekte“, mit denen die Regierung in allen größeren Städten urbane Gewinnmaximierung betreibt, ohne dabei viel Rücksicht auf die Anwohner zu nehmen. Um zu verhindern, dass Künstler und Studenten an Wuhans Donghu-See von Luxus-Hotels und Shopping-Malls verdrängt werden, organisierte Wu Benefizkonzerte und Infoveranstaltungen. Die Atmosphäre war zwischenzeitlich so freiheitlich, dass um den zweitgrößten städtischen See Chinas ein autonomes Jugendzentrum entstehen konnte – das einzige im ganzen Land. Am Ende mussten die Aktivisten jedoch den Plänen der Stadtentwickler weichen. Wu wurde von der Polizei verhört, die ihm dabei auch seine private E-Mail- und SMS-Korrespondenz vorlegte. Wie ein Drogendealer besorgte er sich anschließend mehrere Mobiltelephone, um der ständigen Überwachung zu entgehen. „Dass die Regierung bekam, was sie wollte, hat mich nicht überrascht. Ich wusste von Anfang an, dass es so kommen würde. Aber ich wollte trotzdem meine Meinung sagen.“
Dass sich in Wuhan im Gegensatz zu vielen anderen Millionenstädten Chinas eine lebendige Gegenkultur entwickeln konnte, lag neben entschlossenen Einheimischen wie Wu Wei vor allem auch am „Vox“, einem der langlebigsten Konzerthäuser des Landes. 2001 von Zhu Ning, dem Drummer von SMBZ gegründet, setzte es Wuhan auch für ausländische Bands auf die Landkarte. Punk-Urgesteine wie Sham 69 spielten schon hier, ebenso Erneuerer wie Bonaparte aus Berlin. „Zwei Mal mussten wir bereits umziehen, weil das Publikum immer größer wurde“, sagt Li Ke, der das 600 Zuschauer fassenden Club seit zehn Jahren managt.
Das Banner auf der Rückwand der Bühne verkündet in großen Lettern noch immer das Motto der Anfangstage: „Voice of Youth, Voice of Freedom“. Dazu gehört seit fünf Jahren auch ein Label, Wild Records, das unter dem Titel „Voice Of Wuhan“ Kompilationen lokaler Musiker veröffentlicht und mit Chinese Football eine der bekanntesten jüngeren Rockbands Chinas unter Vertrag hat.
Seit dem Ausbruch des Coronavirus steht jedoch der gesamte Betrieb still: „Nicht nur wir, alle Musik-Venues in China haben dichtgemacht“, sagt Li. „Tausende Gigs wurden abgesagt. Wir haben keine Ahnung, wann wir wieder aufmachen können.“ „Die chinesische Konzert-Industrie wurde von dem Virus schwer getroffen“, so Xu Bo, Sänger und Gitarrist von Chinese Football. „Das ist hart, weil Auftritte heute so ziemlich die einzige Möglichkeit sind, um als Musiker Geld zu verdienen.“
Letzter Ausweg Live-Streaming
Seine Band hätte demnächst zu ihrer ersten Europa-Tour aufbrechen sollen. Daraus wird nun wahrscheinlich nichts. Xu Bo sitzt in Wuhan fest, seine Bandkollegen, die ihre Familien zum Frühlingsfest besucht hatten, können nicht mehr in die abgeriegelte Metropole hinein. Seit vergangener Woche gilt für Wuhan eine absolute Ausgangssperre. Aus Angst sich anzustecken, ging Xu Bo schon vorher kaum mehr aus dem Haus: „Ich spiele viel Gitarre und lade Videos davon ins Internet.
Laut der China Association of Performing Arts wurden seit dem Ausbruch des Coronavirus rund 20.000 Auftritte abgesagt oder verschoben. In der beklemmenden und mitunter äußerst langweiligen Beschränkung auf die eigenen vier Wände haben sich viele Künstler dem Live-Streaming zugewandt. Über Plattformen wie BiliBili oder das bei uns unter dem Namen TikTok firmierende Douyin geben sie Wohnzimmer-Konzerte oder Talks. Labels wie „Modern Sky“ aus Peking oder Clubs wie das „All“ aus Shanghai haben den Trend erkannt und veranstalten „Cloud Music Festivals“ und Schlafzimmer-DJ-Sets, bei denen aus verschiedenen Wohnungen nacheinander Auftritte gestreamt werden. Die Kommentare der Zuschauer, die oftmals selbst unter der Ausgangssperre leiden, laufen direkt über den Bildschirm. Auch echtes Geld kann man den Künstlern überweisen, ebenfalls in Echtzeit über eine an den virtuellen Geldbeutel angeschlossene Geschenkfunktion. Die virtuelle Performance wird zum intimen Gemeinschaftserlebnis, zur privaten Party mit Tausenden Gleichgesinnten.
„Durch die weite Verbreitung von Online-Gaming und Mobile Apps ist China an einem Punkt, an dem solche Szenarien einfach umgesetzt werden können“, sagt Katy Roseland. Die Amerikanerin, die seit zehn Jahren in China lebt, ist Betreiberin der experimentellen Streaming-Plattform „Shanghai Community Radio“. Gerade lud ihr Team zwei Musiker aus Wuhan zur virtuellen Gesprächsrunde ein. Über zwei Stunden erzählten die beiden den Moderatoren von ihren Eindrücken, Ängsten und Routinen inmitten des isolierten Epizentrums. Als sie zugaben, kaum mehr Nachrichten zu lesen, um nicht den Verstand zu verlieren, fluteten viele User zustimmend die Kommentarzeile. Auch das dürfte ein Grund sein, warum die Chinesen trotz der drakonischen Quarantäne noch immer relativ ruhig bleiben: das unmittelbare Wissen, mit ihren Sorgen nicht alleine zu sein. Auch Influencer, E-Sportler oder Tech-Entrepeneure teilen in dieser Virus-Krise mehr denn je ihr Leben. Schon vorher hat das Live-Streaming-Business in China eigene Stars hervorgebracht, von der Bäuerin, die in einer abgelegenen Provinz idyllischen Ackerbau inszeniert bis hin zum queeren Produkt-Tester, der es schafft, 15.000 Lippenstifte in fünf Minuten zu verkaufen. Für Indie-Musiker war es bislang jedoch eher schwer, per Streaming größere Aufmerksamkeit, geschweige denn ein substanzielles Einkommen zu erzielen.
Bis die Veranstaltungsverbote wieder aufgehoben werden, was noch Monate dauern kann, verschafft der digital herumgehende Hut aber zumindest etwas finanzielle Erleichterung, und obendrein das beruhigende Gefühl, dass die Fans einen nicht vergessen. Xu Bo: „Ich bin sehr froh, dass so viele Menschen online aktiv werden und selbst ihre Stimme erheben, sei es als emotionales Ventil, als Lob für das medizinische Personal an der Front oder als Kritik an der Regierung. Für uns Musiker ist es wichtig, dass man uns hört.“