Joy Denalane & Ilgen-Nur: „Wir sind sauer und wir sind traurig“
Zwei Künstlerinnen aus zwei Generationen, zwei Frauen, die in Deutschland aufgewachsen sind und täglich mit Rassismus und Ungleichheit zu kämpfen haben. Ein Gespräch mit JOY DENALANE und ILGEN-NUR über Erfahrungen, Vorurteile und Musik – und darüber, was sich in diesem Land ändern muss
Obwohl Joy Denalane und Ilgen-Nur Borali sich zum ersten Mal treffen und musikalisch Welten zwischen ihnen liegen, verbünden sich die beiden sofort. Die afrodeutsche Soul-Sängerin, die seit 20 Jahren offensiv in Identitäts- und Sexismusdebatten geht, und die junge Gitarristin, die der weiß und männlich geprägten Rockmusik Deutschlands endlich eine queere, postmigrantische Perspektive hinzufügt, haben den gleichen Endgegner: die verkrusteten Strukturen einer Mehrheitsgesellschaft, die sich Vielfalt auf die Fahne schreibt, tatsächlich aber kaum etwas an den festgefahrenen Verhältnissen ändern will.
„Wir sind sauer. Und wir sind traurig“, sagen die beiden im ROLLING-STONE-Interview: Darüber, im Jahr 2020 noch immer Aufklärungsarbeit über strukturellen Rassismus, Sexismus und Ausgrenzung leisten zu müssen. Dinge, die zu ihrer Lebensrealität gehören, die von Menschen, die nie Diskriminierung erfahren, aber nach wie vor kleingeredet werden – nicht zuletzt auch im Musikgeschäft. Gleichzeitig war es nie erfolgversprechender, über diese Dinge zu reden, als jetzt. Seit dem tragischen Tod von George Floyd in Minneapolis geht eine Welle der Entrüstung um die Welt. Und Themen wie Polizeigewalt und White Supremacy scheinen sogar in Deutschland im Mainstream anzukommen. „Eine Chance, sich zusammenzutun und Forderungen zu stellen“, findet Denalane. Dabei wäre die Auseinandersetzung jetzt eigentlich vor allem die Aufgabe der Mehrheit. „Denn es ist ihr Problem, nicht unseres“. Höchste Zeit zuzuhören. Auch wenn es manchmal wehtut.
JOY DENALANE: Wir haben uns vorher noch nicht getroffen. Aber ich wusste, wer Ilgen-Nur ist. Vor einem Dreivierteljahr hat mich jemand auf deine Platte aufmerksam gemacht. Und dann bin ich dir ziemlich schnell auf Instagram gefolgt. Ich habe mich sehr auf unser Gespräch heute gefreut, weil ich sicher bin: Das wird super!
ILGEN-NUR: Ich wusste natürlich, wer du bist. Deine Musik ist mir nicht so vertraut, weil das ein Genre ist, das mir nicht so sehr liegt. Aber die Hits kennt man natürlich. Und ich weiß, wofür du stehst. Deswegen habe ich mich auch gefreut, dass wir hier so zusammengewürfelt werden.
J: Ich habe mich tatsächlich gewundert, dass der ROLLING STONE ausgerechnet jetzt auf die Idee kommt, zwei Frauen aus der sonst unterrepräsentierten BIPOC-Community
(BIPOC ist ein Akronym von „Black, Indigenous and People of Color“) zusammenzubringen, wie um zu sagen: Jetzt dürft ihr hier auch mal größer stattfinden. Ich habe ihn immer als ein sehr männliches, weißes Magazin wahrgenommen.
I: Der ROLLING STONE hat eine große Bedeutung für mich, weil es eben noch immer das größte Rockmagazin und Rock mein Genre ist. Ich habe ihn mir auch hin und wieder gekauft. (Lacht) Es gibt natürlich viele weiße männliche Musiker, die ich super finde. Jeff Buckley und Elliott Smith gehören zu meinen Helden. Aber dass ich nie eine Frau mit Gitarre auf dem Cover eines Magazins sehe beziehungsweise auch als Teenager nie gesehen habe, finde ich schon komisch. Ich freue mich, dass wir hier sind und diese Themen gemeinsam ansprechen können. Aber ich habe dabei auch die Frage im Hinterkopf, ob wir jetzt interessant sind, weil unsere Musik gut ist und wir als Künstler wichtig sind oder weil jetzt eben eine Zeit gekommen ist, in der man das Thema Diversity nicht mehr totschweigen kann.
J: Ich empfinde es als ambivalent. Einerseits finde ich es toll, mit dir zusammen so eine Geschichte zu machen. Gleichzeitig denke ich: Warum erst jetzt? Und warum gerade Leute wie wir? Auf der Skala von BIPOC sind wir ja tatsächlich eher die LightSkin-Fraktion …
I: Ich bin super-white-passing!
J: Ja, light-skinned und white-passing: Ist das das Äußerste, wozu der ROLLING STONE jetzt bereit ist? Es gibt tolle Artikel im ROLLING STONE. Und auch die Menschen auf dem Cover sind natürlich alles tolle Musiker. Und es gab auch Cover mit Prince. Aber die meisten sind dann leider nur posthume Geschichten: Miles Davis, Bob Marley, Jimi Hendrix … Gary Clark Jr. war auch nie auf dem Cover des ROLLING STONE.
I: Oder Joan Armatrading. Oder Sister Rosetta Tharpe.
„Generell freue ich mich, über diese Themen zu reden, und ich finde es wichtig, dass man über sie spricht“
J: Gitarrenmusik ist ja keine weiße Musik. Und wenn man jetzt sagt, Beyoncé ist uns zu mainstreamig, die wollen wir nicht abbilden – warum nimmt man dann nicht Solange Auch die Unterrepräsentanz von Frauen ist mir immer wieder aufgefallen. Weil es nicht im Entferntesten widerspiegelt, was die Musiklandschaft zu bieten hat. Man muss jetzt eben beobachten, wie das weitergeht. Ob die momentane Aufmerksamkeit für Diversity Teil einer Zäsur ist oder nur eine schnelle Anpassung an das Weltgeschehen oder das eigene schlechte Gewissen. Eines ist natürlich traurig: dass erst Menschen auf brutale Weise sterben müssen, damit so eine Energie um die ganze Welt geht und wichtige Themen wie Ungleichheit endlich in den Vordergrund rücken und auch in einem Land wie Deutschland endlich über Polizeigewalt gesprochen wird. Oder über die eigene Kolonialgeschichte.
I: Oder über Seehofer, der behauptet, dass es keinen Rassismus in Deutschland gibt, und die Polizei deshalb nichts über Racial Profiling wissen muss. Ich habe das Gefühl, dass
anderen Stimmen zum ersten Mal im Mainstream zugehört wird. Das ist enorm wichtig und absolut an der Zeit.
J: Ohne George Floyd hätten wir die Sichtbarkeit dieser Problematiken jetzt nicht in dieser Deutlichkeit. Das ist eine Chance, auch für die Community, sich zusammenzutun und mit einem neuen Bewusstsein Forderungen zu stellen. Deswegen finde ich es gut, dass wir jetzt hier zusammen kommen. Denn du bist ja sozusagen die neue Generation.
I: Generell freue ich mich, über diese Themen zu reden, und ich finde es wichtig, dass man über sie spricht. Aber ich habe nicht immer Lust darauf. Es ist emotional sehr anstrengend. Ich würde vielleicht viel lieber über Gitarrenmodelle reden.
J: Man kann nicht immer zu jedem Zeitpunkt mit derselben Energie und Stärke über solche Sachen sprechen. Meine politische Arbeit hat deshalb auch immer einen eher wellenförmigen Verlauf: Es gab Phasen in meiner Karriere, in denen ich mich sehr stark eingesetzt habe, oft in Talkshows gegangen bin. Es war faszinierend bis brutal und oft auch richtiggehend schädigend, wie sehr ich gerade in den Anfangszeiten belächelt wurde. Und es ist tatsächlich ein zweischneidiges Schwert: Öffentlich über Rassismus-Erfahrungen zu sprechen ist etwas sehr Persönliches, und ich finde es nicht immer richtig, das Persönliche in den Fokus zu rücken, weil es von der Empirie ablenkt. Denn die Empirie ist bei solch wichtigen Themen das beste Instrument. Doch ich wurde auch belächelt, wenn ich das Thema allgemeiner als gesellschaftliches Phänomen angesprochen habe. Dann kamen Klassiker wie: „Ach komm, das gibt es hier nicht mehr“, oder, noch schlimmer: „Das kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht bist du ja ein bisschen zu sensibel.“ Man braucht ein sehr dickes Fell, um an solchen Erfahrungen nicht zu verzweifeln. Man geht nicht unverletzt aus solchen Situationen hervor.
Weil du dich als Minderheit immer in einem ungeschützten Raum bewegst – gegenüber einer Mehrheit, die sich in bestimmten Punkten eben doch sehr einig ist. Das ist sehr ermüdend. Und es ist Teil meiner Lebensrealität geworden, was ich ein wenig traurig finde. Ich habe mir nicht ausgesucht, dass Rassismus als Thema mein Leben bestimmt. Aber was sind die Optionen? Machst du dich klein und schwimmst mit, so gut es geht? Oder begehrst du auf und bist laut? Meine Eltern haben mich darauf vorbereitet, aufzustehen, zu widersprechen und stark zu bleiben, wenn ich auf Widerstand stoße.
I: Viele sehen natürlich nicht, dass so ein Gespräch ja nicht einfach eine Talkshow, ein Radiointerview oder ein Zeitungsartikel für mich bleibt. Es ist meine Realität. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht über Sexismus, Rassismus und Homophobie nachdenken muss.
J: Und es sickert in deinen Alltag, in den Umgang mit dem Freundeskreis und in die Familie. Kürzlich sagte mein Sohn, der jetzt 19 ist: „Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass wir als Familie nicht einfach mal ein oberflächliches Gespräch führen können?“ Wir müssen immer deep sein, die Dinge analysieren. Das kommt wohl daher, dass man sich immer mit seiner eigenen Identität als vermeintlich Fremder rumschlagen muss und damit, warum man in der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert wird. Manchmal denke ich: Warum muss immer ich darüber reden und in der Öffentlichkeit Pate für diese Dinge stehen? Soll doch die weiße Mehrheit darüber reden. Es ist schließlich ihr Problem und nicht meins.
ROLLING STONE: Der konservative „Focus“-Kolumnist Jan Fleischhauer schrieb neulich, dass er das Gefühl habe, weiß zu sein sei heute so etwas wie die Erbsünde, für die er und alle anderen jetzt kollektiv büßen müssen …
I: Ja, da ist sie wieder, die White Fragility. Was ist mit den Minderheiten, die seit Jahrhunderten über einen Kamm geschoren werden? Wenn man der Mehrheit angehört, ist man es nicht gewohnt, dass mit dem Finger auf einen gezeigt wird. Deshalb bin ich dir ja auch so dankbar, dass du solche Sachen für Künstler wie mich durchgemacht hast.
Hätte es Stimmen wie Joy in Deutschland oder die Riot Grrrls in den USA nicht gegeben, hätte ich es heute viel schwerer, mich zu erklären und mich zu behaupten.
J: Anders als vor 20 Jahren haben wir heute ein Vokabular, um die Dinge zu benennen. Also nicht nur Gefühle zu haben und die verkrampft zu beschreiben, sondern mit einer guten wissenschaftlichen Sprache Phänomene und Emotionen einzuordnen. Das ist eine starke Hilfe für eure Generation, um Intersektionalität einzustufen und Problemen, die marginalisierte Gruppen betreffen, den richtigen Stellenwert zu geben. Das hatten wir früher so leider nicht zur Hand.
I: Dadurch rücken auch neue Themen ins Blickfeld, über die man reden muss. Zum Beispiel, wie viele nichtbinäre Menschen eigentlich in der Rockmusik vorkommen.
J: Das stimmt. Als ich so alt war wie du, war Queerness in all ihren Facetten ein Thema, das es nie richtig an die Oberfläche schaffte. In der deutschen Popwelt gab es das quasi nicht.
„Auch als Vertreterin einer vermeintlich neuen Generation muss ich feststellen: So viel hat sich da bisher nicht verändert“
I: Welche queeren Persönlichkeiten konnte man im deutschen Fernsehen sehen? Hella von Sinnen vielleicht. In der deutschen Musik habe ich lange gesucht und nichts gefunden.
J: In der homophoben HipHop-Welt ist das großenteils immer noch so.
I: Ich kann heute offen queer sein. Aber diese Kämpfe gibt es noch immer. Neben Magazinen und Preisverleihungen gibt es noch so essenzielle Dinge wie Festival-Line-ups. Auch als Vertreterin einer vermeintlich neuen Generation muss ich feststellen: So viel hat sich da bisher nicht verändert. Erst vor zwei Jahren gab es diese Photoshop-Reihe: Wir würden deutsche Festivals ohne Männer aussehen? Das waren dann leere Flächen mit zwei, drei Frauenbands in der Ecke. Und ich vermute auch, dass Frauen nach wie vor schlechter bezahlt werden als Männer.
J: Die Beteiligung von Frauen an Festivals ist nach wie vor desaströs. Und dann kommt immer das Argument: „Tja, es gibt halt nicht so viele gute Musikerinnen.“
RS: Joy, du engagierst dich als Botschafterin in der Initiative Keychange für mehr Vielfalt und ausgewogene Geschlechterverhältnisse in der Musikbranche. Bemerkst du schon Veränderungen?
J: Keychange ist nur eine kleine Stimme in einem Stimmenmeer. Die Idee ist gut, aber es bräuchte noch viel mehr davon. Die Strukturen sind einfach sehr patriarchalisch, aber immerhin ist auch in den großen Unternehmen angekommen, dass diese selbstsichere Ruhe nicht mehr angebracht ist. Dass es Reibung gibt. Dass es Stimmen gibt, die laut werden. Und dass man ein Thema wie Diversity vorantreiben muss. Man müsste in den Firmen Teams installieren, die das kontrollieren, die Dinge in Frage stellen und Forderungen formulieren.
I: Ich bin auch Teil von Keychange und finde es wichtig, aber ich weiß auch, dass bei den Major-Labels die Büros nicht so aussehen, wie sie sollten. Es fängt ja schon damit an, wer in den Führungspositionen sitzt und die Entscheidungen fällt. Dabei müssten weiße Männer in Führungspositionen gar nicht so ängstlich sein oder sich in White Guilt verlieren. Mehr Vielfalt bedeutet ja nicht den Untergang. Sie könnten auch einfach sagen: Ich bin mir meiner Position und meiner Macht bewusst und nutze sie, um marginalisierten Stimmen einen Platz zu geben.
„Einen Feminismus, der nicht intersektional ist, also schwarze Frauen, Transfrauen oder muslimische Frauen nicht mit einschließt, den will ich nicht“
RS: Würdet ihr dabei auch eine Frauenquote befürworten?
J: Ja, ich finde Quoten ganz gut als Grundlage, um Veränderungen zu etablieren. Weil klassische Seilschaften dann nicht mehr so leicht zum Zug kommen. Das ist keine Dauerlösung, sondern eher ein erster Schritt für eine systemische Veränderung.
I: Ich bin nicht so sicher, was ich von einer Quote halten soll. Als vor ein paar Jahren diese Feminismuswelle aufkam, dachte ich, dass wir in dem Diskurs doch eigentlich schon viel weiter wären. Einen Feminismus, der nicht intersektional ist, also schwarze Frauen, Transfrauen oder muslimische Frauen nicht mit einschließt, den will ich nicht.
J: Auch da ist es schwierig, eine Bewegung zu bewerten, wenn sie noch am Anfang steht. Man braucht mehr Erfahrungswerte im Musikbereich, mindestens fünf bis zehn Jahre, um zu sehen, ob sich wirklich was verändert hat oder ob die Aufbruchsstimmung nur einem Hype geschuldet war, dem man in der Industrie nachgeben musste, um sein Gesicht nicht zu verlieren. Um in dieser Riesenindustrie wirklich an den Stellschrauben zu drehen, braucht es viel Arbeit, viel Kontrolle und auch viel Zeit.
I: Es ist auch 2020 noch anstrengend, als Frau Gitarrenmusik zu machen. Und ich bin ja sogar in einer privilegierten Position. Ich bin white-passing, eine Cis-Frau ohne Disability. Und mein Team, meine Band, mein Management bestehen fast komplett aus weißen Cis-Männern. (Cis: Geschlechtsidentität entspricht dem biologischen Geschlecht.) Ich bin mir dessen bewusst und frage mich, was ich machen kann, damit sich das ändert. Es geht darum, den Minderheiten Platz zu machen. Nicht aus Mitleid, sondern aus Überzeugung. Die Ausgrenzung vor und hinter der Bühne ist auch eine Frage der Sicherheit: Wenn ich backstage gehe und da sind nur Typen, dann fühle ich mich unsicher. Und es ist ja ein Fakt, dass Leute auf Konzerten oft übergriffig werden.
RS: Seid ihr mal solchen Harvey-Weinstein-Typen begegnet?
J: Ja, allerdings. Ich könnte dir jetzt mein Leid klagen über Männer, die ihre Machtpositionen für Übergriffigkeiten ausgenutzt haben. Aber solche Fragen, ob mir das passiert ist und wie ich damit umgehe, objektifizieren mich halt auch. Also grundsätzlich: Ich reagiere und wehre mich in der Regel sofort. Aber es hinterlässt doch oft ein Gefühl von Überforderung, weil da plötzlich einfach eine Grenze überschritten wird. Und diese Überforderung nutzen viele auch aus. Ich erinnere mich, wie mir einmal kurz vor einer Talkshow, wirklich zehn Sekunden bevor ich auf die Bühne musste, ein Typ, ein bekannter Rockgitarrist, an den Hintern packte. Und mit dem musste ich dann in der Sendung sitzen. Widerlich.
„Auch John Lennon hat Frauen geschlagen. Und die Platten verkaufen sich trotzdem sehr gut“
I: Ich habe auch meine Erfahrungen gemacht. Wenn man aber öffentlich über solche Übergriffe in der Musikindustrie spricht, ist man schnell in der Opferrolle. Und die Typen kommen leider noch immer oft damit durch. So war es schon immer und so ist es immer noch, von Ryan Adams bis hin zu Justin Bieber. Auch John Lennon hat Frauen geschlagen. Und die Platten verkaufen sich trotzdem sehr gut. Man merkt: Wir sind sauer …
J: … und wir sind traurig.
I: Ich kann mir vorstellen, dass jemand, der jetzt dieses Interview liest und sich vorher nicht mit diesen Themen auseinandergesetzt hat, denkt, dass wir sehr aggressiv rüberkommen. Wer nun aber verunsichert oder wütend ist, sollte sich vielleicht erst mit dem Thema auseinandersetzen. Und dazu gehört, einfach mal zuzuhören und dann zu reflektieren und sich weiterzubilden. Wir leben ja im Zeitalter von Internet und Podcasts. Die Informationen sind alle da draußen und jederzeit zugänglich. Wichtig wäre aber auch, Themen wie Racial Profiling auf den Stundenplan der Schulen zu setzen.
J: Man müsste definitiv mal in die Schulbücher reinschauen, in die Geschichtsbücher, aber auch die Biobücher. Alles, was ich über den deutschen Kolonialismus weiß, musste ich mir selber beibringen. Darüber habe ich an keinem einzigen Tag etwas in der Schule gelernt.
I: Ich auch nicht. Das muss man sich später alles selber beibringen. Aber wenn du in einer weißen Bubble lebst, dann interessierst du dich wahrscheinlich eher nicht so sehr dafür. Oder der NSU-Komplex: Darüber haben wir in der Schule nicht gesprochen. Dass diese Fälle nicht nachhaltig aufgeklärt sind, ist aber ein sehr wichtiges Thema für dieses Land und eben nicht nur für mich als Deutschtürkin. Meine Eltern haben mit mir zu Hause nicht darüber gesprochen, wahrscheinlich weil es einfach Angst macht. Ich hatte als Kind und Teenager auch lange Zeit Probleme mit meinem Namen. Ich hatte oft Lehrer, die ihn immer falsch ausgesprochen haben. Sie sagten, er sei ihnen zu kompliziert – was vor allem eines ist: respektlos. Als ich mich dann für einen Künstlernamen entscheiden musste, war schnell klar: Ich nehme ganz bewusst meinen türkischen Vornamen. Ich wollte, dass die Leute ihn sich merken müssen. Ich wollte ihn auf Festivalplakaten sehen. Ich wollte, dass die Leute sich endlich an arabische und türkische Namen gewöhnen.
J: Es braucht auf jeden Fall Leute, die eine Bereitschaft mitbringen, die sehen, dass es eine Schieflage gibt, auch wenn sie die nicht genau benennen können. Diese Bereitschaft muss aber von der Mehrheitsgesellschaft kommen. Und die sollte nicht darauf warten, dass Leute wie wir etwas anbieten. Es ist eine Aufgabe, es ist Arbeit – und nicht einfach nur so ein Feeling von Solidarität.
I: Menschen, die diese Offenheit mitbringen wollen, muss klar sein, dass es unangenehm wird, sich über diese Themen zu informieren und festzustellen, dass man Teil des Problems ist. Das gilt übrigens auch für die Musikgeschichte. Man sollte sich klarmachen und es wertschätzen, dass der Ursprung der Musik, die man liebt – ob das nun Techno ist oder Soul oder Rock –, auf schwarze Menschen zurückgeht, die unter schwierigen Umständen gearbeitet haben. Die Rolling Stones haben den Rock’n’Roll nicht erfunden.
Ilgen-Nur
„Die Begriffe ,Power‘ und ,Nap‘ beschreiben meine Musik sehr gut“, sagt Ilgen-Nur Borali und lacht. Mit dem gleichnamigen Album hat die in Berlin lebende Musikerin im vergangenen Jahr eines der besten Indie-Rock-Debüts veröffentlicht, 32 Minuten unaufgeregte, entwaffnend getextete Hymnen irgendwo zwischen Kurt Vile und einer auf Sägezahngitarren surfenden Lana Del Rey. Derzeit arbeitet die 24-Jährige am Nachfolger und bereitet sich auf ein Gastspiel in L.A. vor.
Du bist in einer schwäbischen Kleinstadt aufgewachsen. Hat das dein Leben als Musikerin geprägt?
Ich habe mich dort sehr allein gefühlt, es gab niemanden, der die gleiche Musik gehört hat wie ich. Mit 19, 20 habe ich in einer Bäckerei in einem Einkaufszentrum im Nachbardorf gejobbt und schwäbischen Senioren Butterbrezeln und Kaffee serviert. Dabei dachte ich immer: Ich würde jetzt lieber in Berlin wohnen und in einer Band spielen. Aber wäre ich in Berlin aufgewachsen, hätte ich nicht in eine Traumwelt fliehen müssen und hätte am Ende vielleicht gar keine Musik gemacht …
War dir von Anfang an klar, dass du englisch singen willst?
Ja, schon. Das lag daran, dass ich kaum deutsche Musik gehört habe. Was wiederum daran lag, dass ich hier kaum Vorbilder und Identifikationsfiguren gefunden habe. Meine Eltern haben zu Hause hauptsächlich türkische Musik gehört. Als Musikerin hat mich das aber ebenfalls kaum beeinflusst, außer vielleicht mit einer bestimmten Dramatik, die auch bei mir vorkommt.
Bei welchen Musikern findest du dich eher wieder?
Joan Armatrading, eine wahnsinnig gute Gitarristin. Brittany Howard von den Alabama Shakes. Sasami, Japanese Breakfast, Black Belt Eagle Scout. Und ich bin ein großer Fan
von Mitski. Ihre Texte beschreiben meine Realität viel mehr als die von deutschen Indie-Bands.
Jetzt bist du selber Identifikationsfigur für Menschen, die sich nicht zugehörig fühlen. Freut dich das?
Der Gedanke, selber eine Identifikationsfigur für andere zu sein, macht mir aber ein bisschen Angst. Ich bin ja selbst noch sehr jung. Aber wenn ich einen Menschen motivieren kann, selber Gitarre zu lernen oder Musik zu machen, ist mein Job getan. Meine Musik richtet sich ja nicht an eine bestimmte Minderheit, sondern an Einzelgänger im Allgemeinen.
Joy Denalane
Kurz nachdem 2002 ihr Debüt, „Mamani“, erschienen war, wurde Joy Denalane bereits von MTV zur „Queen of German Soul“ gekürt. „Dabei war ich immer eine Königin ohne Königreich“, sagt die 47-Jährige, die mit ihrer selbstverständlich wirkenden Mischung aus afroamerikanischer Musiktradition und deutschen Texten tatsächlich bis heute ziemlich allein dasteht. Nachdem auf „Gleisdreieck“ zuletzt verstärkt R&B- und HipHop-Einflüsse hinzukamen, veröffentlicht die gebürtige Berlinerin mit „Let Yourself Be Loved“ im September wieder ein klassisches Soul-Album – das erste einer deutschen Künstlerin, das auf dem geschichtsträchtigen Label Motown erscheint.
Du hattest die Lieder für „Let Yourself Be Loved“ bereits 2015 fertig geschrieben. Warum erscheint das Album erst jetzt?
Die Songs waren von Anfang an sehr soulful, ein bisschen retro. Ich hatte eine Vision, wie sie klingen sollen, bekam es aber einfach nicht übersetzt. Das war mir vorher noch nie passiert. Und dann habe ich mich mit dem Album „Gleisdreieck“ einem ganz anderen, modernen Sound zugewandt, vielleicht auch als eine Art Gegenentwurf zu dieser damals unveröffentlichten Soul-Platte, die nach einer Weile zu so was wie meinen persönlichen „Lost Tapes“ wurde (Lacht).
Am Ende hast du es zusammen mit dem Pianisten und Produzenten Roberto Di Gioia fertiggestellt, mit dem du schon seit Jahren zusammenarbeitest. Wie kam die Motown-Connection zustande?
Als das Album so weit fertig produziert war, hat jemand von meiner Plattenfirma es in Amerika vorgestellt. Und die wollten es dann tatsächlich rausbringen. Das hat mich umgehauen: Der erste Release einer deutschen Künstlerin auf Motown! Für mich war das so abstrakt und auch völlig weit weg. Wir hatten die Platte ja mehr oder weniger allein produziert, zwei Soul-Nerds und der Sound-Ingenieur Jan Krause in einem Unterföhringer Keller! Dabei war es nie unser Ziel, ein klassisches MotownAlbum aufzunehmen. Unser roter Faden lag, was den Sound angeht, irgendwo zwischen 1976 und 1979, das Songwriting und die Produktion sind jedoch modern. Dass das Album jetzt bei Motown erscheint, ist ein wahr gewordener Traum.