Chinas Stadtflucht: Die Renaissance der „schönen Dörfer“
„Hier ist der Himmel auf Erden“ sagt Zhang Jinglei über ihre neue Heimat. Zehn Jahre hatte die Filmemacherin in Chinas Hauptstadt Peking gelebt. Vor zehn Monaten packte sie ihre Sachen und zog ins gut 2.000 Kilometer entfernte Caicun, ein Vorort der Stadt Dali in der Provinz Yunnan. In wenigen Tagen fand die 32-Jährige in dem von der Bai-Minderheit geprägten Dorf eine Zwei-Zimmer-Wohnung für 1.000 Yuan. In Peking hatte sie gut das Dreifache bezahlt – für ein WG-Zimmer.
Der Wunsch, Peking zu verlassen, war schon länger in ihr gereift. In der Stadt konnte man dem sozialen Druck nur mit Vergnügungen und Alkohol entfliehen. „Ich musste den Absprung machen“, erzählt sie. Ihr Leben sei nun einfacher, sagt die in der 14-Millionen-Einwohner-Metropole Tianjin geborene Zhang. Sie hat einen Hund adoptiert und sogar ein Schwein, das sie nun mit Leine Gassi führt.
Alltag mit Hausschwein und Hund: Wie die ehemalige Städterin Zhang Jinglei träumen viele junge Chinesen von einem einfacheren Leben auf dem Land
Obwohl der chinesische Staat seit Jahrzehnten die Urbanisierung förderte, hat sich auch eine umgekehrte Migrationsbewegung in Gang gesetzt. Die Immobilienpreise in den Ballungsräumen sind gerade für Berufsanfänger unerschwinglich geworden, der Konkurrenzkampf um Schulplätze in beliebten Vierteln nervenaufreibend. Hinzu kommt ein neues Bewusstsein der Mittelschicht für körperliche und mentale Gesundheit. Während der Corona-Pandemie entdeckten viele Chinesen zudem die Vielfalt ihres Heimatlandes. Laut dem chinesischen Reiseportal Trip.com wurden in China noch nie so viele Road Trips unternommen wie in den vergangenen zwei Jahren. Auch Outdoor-Sport und Camping waren in der Volksrepublik nie beliebter.
In ihrem Haus in Caicun leben weitere Städter, die dem urbanen Wahnsinn während der Pandemie den Rücken kehrten, erzählt Zhang, darunter zum Beispiel ein ehemaliger Huawei-Mitarbeiter. Viele junge Menschen, die aufs Land zögen, würden zunächst einmal „flach liegen“ – „Tangping“ – „躺平“, ein Modewort, das die Verweigerungshaltung junger Chinesen umschreibt, die statt nach Karriere, Familie und Besitz zu streben, nur das Nötigste tun, um über die Runden zu kommen (China.Table berichtete). Doch nach einer Zeit der Akklimatisation würden viele etwas tun wollen. „Brot backen, eine Bar aufmachen oder Kunst auf der Straße verkaufen.“
Der Staat heißt die neue Stadtflucht willkommen. Präsident Xi Jinping sprach 2017 erstmals von seiner Strategie zur „ländlichen Revitalisierung“. Dabei werden weiterhin Kleinbauern durch große Agrarunternehmen ersetzt, aber es gibt auch neuere Initiativen für die Förderung mittelgroßer, ökologischer Betriebe. Ein weiteres Ziel ist der Ausbau der Infrastruktur mit Schulen, Kliniken, Wohnungen, Straßen und Eisenbahnnetzen. Das Leben auf dem Land soll so attraktiv werden, dass auch junge Städter ihren Lebensmittelpunkt dorthin verlagern.
„Es gibt viele Versuche, ländliche Gebiete mit jungen Talenten zu beleben“, sagt Elena Meyer-Clement, Professorin für Chinastudien an der Universität Kopenhagen. Einer ihrer Schwerpunkte ist die Forschung zu Urbanisierung, Verwaltungs- und Bodenreformen in Chinas ländlichen und semi-urbanen Regionen. Unternehmerische Initiativen und Tourismus werden von einzelnen Lokalregierungen gezielt gefördert, sagt sie. „Es ist ein Trend der auch in fast allen anderen postindustriellen Staaten zu sehen ist, sei es Japan oder Brandenburg in Deutschland.“
Das Besondere sei jedoch, dass der Prozess in China gleichzeitig mit einer raschen Urbanisierung stattfindet – „fast wie eine Art von oben gesteuerter Austausch der Bevölkerung“, so die Wissenschaftlerin. Das heißt, überspitzt formuliert, Kleinbauern sollen in die Städte abwandern, um dort den Binnenkonsum zu fördern, während junge gebildete Städter neue kreative Ideen aufs Land bringen sollen, um die dortige Wirtschaft sozialer und ökologisch nachhaltiger zu gestalten.
„Schöne Dörfer“ als Wirtschaftsmotor
Dazu gehören auch die sogenannten „schönen Dörfer“, sagt Meyer-Clement. „Dafür werden bestehende Dörfer renoviert oder gleich völlig neue geschaffen, die aussehen wie aufgehübschte traditionelle Dörfer.“ Ein Beispiel ist das Örtchen Longtan, das sich mit Bächlein und Mühlenrad pittoresk der Berglandschaft der Provinz Guangxi anschmiegt. 400 Jahre soll es alt sein, schreibt die lokale Regierung, die den Zuzug mit einem Budget für Kunstprojekte und Renovierungsarbeiten fördert.
Das Feng Shui stimmt offenbar: Jährlich kommen 200.000 Touristen nach Longtan, um die Qing-Architektur zu bewundern oder Pleinair-Malern bei der Arbeit zuzusehen. Sogar die älteren Dorfbewohner wurden hier zu Künstlern ausgebildet, die ihre Arbeiten nun an Touristen verkaufen. „Viele dieser kreativen Landbewohner haben Douyin-Kanäle, das chinesische Tiktok, auf denen sie demonstrieren, wie einfach aber auch modern das Leben auf dem Land sein kann“, sagt Meyer-Clement. „Jung, dynamisch, kreativ plus althergebrachter Werte, die in der Stadt verloren gegangen sind.“
Der Trend sei allerdings nur punktuell zu beobachten und beschränke sich auf eher entwickelte Gebiete, besonders an der Ostküste Chinas. „Die absolute Armut wurde eben erst überwunden. Da sind Künstlerdörfer noch nicht das große Thema“, sagt Meyer-Clement. „Dinge wie E-Commerce funktionieren auf dem Land schon sehr gut. Ob solche schönen Dörfer allerdings eine nachhaltige Strategie sind, wage ich zu bezweifeln.“
Die neuen Landbewohner sehen das freilich anders. Zu ihnen zählt Shen Lan. Kurz bevor Shanghai in den ersten großen Lockdown ging, siedelte die Autorin und Kulturwissenschaftlerin mit ihrem Ehemann in ein Künstlerdorf außerhalb von Liangzhu in der Provinz Zhejiang über. Die von Bergen und Flüssen geprägte Landschaft ist eng verwoben mit der chinesischen Kulturgeschichte. Vor einigen Tausend Jahren siedelten hier bereits Menschen.
Shen arbeitet in der malerischen Umgebung an einem Buch über chinesische Naturphilosophie, Einsiedelei und Kunst. Morgens steigt sie oft auf eine Anhöhe, zehn Minuten von ihrem Haus entfernt, und betrachtet den Sonnenaufgang. In ihrem Dorf leben noch andere Aussteiger wie sie, ein Schriftsteller, eine professionelle Tänzerin und ein Professor für Anthropologie. Die Atmosphäre sei sehr familiär, erzählt sie.
Sieben Jahre hatte Shen in Shanghai gelebt, in einem geräumigen Apartment in der Nähe des Jing’an-Tempels, mit einem kleinen Gärtchen im Hinterhof. Dennoch hat sie in der Stadt nicht gefunden, was sie suchte: Ausgeglichenheit und Spiritualität. Für Shen ist das Leben auf dem Land eng mit der Philosophie des tiān rén hé yi (天人合一) verwoben, die zum Beispiel der Philosoph Zhuangzi vertrat: Der Mensch ist Teil der Natur. Himmel und Mensch sind ursprünglich eins. Ziel ist die Harmonie aller Elemente. „Wir Chinesen haben eine sehr tiefe Verbindung zur Natur, sie liegt in unserem Blut“, sagt Shen. Schon die alten Konfuzianer hätten den Traum gehabt, sich auf dem Land zur Ruhe zu setzen, wenn sie ihre Pflicht in der Welt getan hatten.
Natürlich spielen auch für Shen weltliche Faktoren eine Rolle. In Liangzhu wohnt sie mit ihrem Partner auf 140 Quadratmeter für knapp 4.000 Yuan. Auch die Internetverbindung und Infrastruktur für die Dinge des täglichen Lebens seien ausgezeichnet. „Du kannst essen online bestellen oder auf Märkten einkaufen oder direkt beim Bauern“, sagt sie. „Wir können hier einen traditionellen Lifestyle mit modernen Annehmlichkeiten verbinden.“
Ihr Langzeitziel sei es, noch umweltfreundlicher und nachhaltiger zu leben und eines Tages vielleicht selbst eine Öko-Siedlung zu gründen. „Es ist, als kehren wir zu unseren Ursprüngen zurück. Mit einem höheren Bewusstsein für die Natur, für das Leben und dafür, wer wir wirklich sind.“
Mitarbeit: Renxiu Zhao