Hey, hey, Wickie!
Auf dem Midgardsblot-Festival im norwegischen Borre entdecken weiße Menschen beim Tanz ums Feuer ihre vermeintlichen Wikingerwurzeln wieder
Jedes Jahr im Spätsommer treffen sich Horden neuer Heiden beim Midgardsblot-Festival im norwegischen Borre. Die Gegend war zu Zeiten der Wikinger ein Machtzentrum. Während der vier Festivaltage Mitte August sieht hier vieles so aus, als stünde seit damals die Zeit still. In Laufweite historischer Grabhügel versammeln sich Menschen in Leinengewändern und Fellumhängen, die Bärte bezopft, die Trinkhörner mit Met gefüllt. Der erste Höhepunkt ist wie jedes Jahr ein Opferritual mit Tierblut zur Eröffnung. Es stammt von Schafen aus der Region. Stolz tragen die Männer und Frauen es als Mal auf Wangen und Stirn. Das Neuheidentum erlebt in Europa und den USA gerade eine Renaissance. Grund dafür ist vor allem auch der Erfolg von sogenannten „Ritual Folk“-Bands wie Heilung und Wardruna, die auf der Bühne neoschamanische Spektakel veranstalten und das Genre so aus seiner schwammigen Nische zwischen Mittelaltermarkt und „Herr der Ringe“ herauskatapultiert haben. Dabei tragen sie Geweihe und historische Trachten, blasen in hoch aufragende Bronzetrompeten, dreschen auf Trommeln aus Tierhäuten und stoßen Speere in die von Stroboskopblitzen durchzuckte Luft.
Im Schnitt strömen zwischen 2.500 und 5.000 Menschen zu den Konzerten dieser Bands, die sie als „Rituale“ verstanden wissen wollen. In Deutschland und Österreich kletterten beide Gruppen mit ihrer düsteren Trommelmusik sogar in die Top Ten der Albumcharts. Von den Massenmedien kaum beachtet haben sich in ihrem Fahrwasser etliche weitere „Ritual Folk“-Bands gebildet, zum Beispiel Vevaki und Sowulo, die beim Midgardsblot in spektakulären Kostümen ebenfalls die Wikinger- und Eisenzeit wiederaufleben lassen. Die Popularität des Genres ist kein Zufall: In Zeiten, in denen Minderheiten ihre präkolonialen Identitäten reklamieren, bietet der Ritual Folk weißen Westlern eine Möglichkeit, bei identitätspolitischen Debatten ebenfalls stolz auf uralte Wurzeln zu verweisen.
Viele der Besucher des Midgardsblot haben den weiten Weg aus den USA auf sich genommen. Wie um eine lang verschüttete Traditionslinie fortzusetzen, vergraben manche Thorshammer-Amulette und Runenanhänger in der „heiligen Erde“ ihrer Vorfahren. Wenn das Festival vorbei ist, werden die Mitarbeiter des angrenzenden Museums das Gelände wie jedes Jahr danach absuchen und die auf Amazon, Etsy oder dem Wikinger-Online-Shop „Grimfrost“ gekauften Artefakte wieder einsammeln.
„Die neuheidnische Identität ist keine Wiederentdeckung, sondern zum großen Teil ein Konstrukt“
„Es findet eine Exotisierung der eigenen Vergangenheit statt. Die neuheidnische Identität ist jedoch keine Wiederentdeckung, sondern zum großen Teil ein Konstrukt“, sagt Jane Skjoldli, die an der Universität Stavanger im Fachbereich Cultural Studies zum Neuheiden-Phänomen forscht. Skandinavische Wurzeln, die in Foren gerne mit DNA-Tests von Anbietern wie Ancestry belegt werden, gelten für viele als Nachweis für „Wikingerblut“. „Gerade in den USA haben solche Fragen der DNA die Tendenz, schnell an rassische Ideen geknüpft zu werden“, sagt Fredrik Gregorius, Experte für altnordische Religion an der Universität Linköping. Zusammen mit Skjoldli beleuchtet er in einer Forschungskooperation, wie altnordische Riten an Orten wie dem Midgardsblot eine Renaissance erfahren. Insgesamt nehmen beide die Heidenszene im Gegensatz zu früheren Wellen des New-Age-Paganismus, also des Heidentums, als weltoffen wahr. „Es ist aber nicht auszuschließen, dass alte Modelle von Ethnizität und Volksseele nebenbei gepusht werden.“ Auch in völkischen und rechtsextremen Kreisen spielen mythenumrankte Vorfahren eine wichtige Rolle. Das Dritte Reich stützte seine Weltanschauung auf zurechtgebogene Überlieferungen einer nordgermanischen Kriegerrasse. Schon vor der Machtergreifung hatten ariosophische Gruppen wie die „Thule-Gesellschaft“ einen Übermenschen der Vorgeschichte herbeifantasiert, der vom Christentum verweichlicht worden war, aber in einer neuen Ideologie von Blut und Boden seiner Wiederbelebung entgegensah. Runen und runenähnliche Zeichen sind heute nicht nur bei Neuheiden, sondern auch bei Neonazis ein Bindeglied zu einer irgendwie edleren Vergangenheit. Während der NS-Zeit hatte es die SS-Siegrune sogar auf die Tastaturen deutscher Schreibmaschinen geschafft.
Von rechten Ideologien distanzieren sich die „Ritual Folk“-Bands heute häufig entweder explizit oder indem sie sich als unpolitisch bezeichnen. Heilung und Wardruna, die beiden bekanntesten Bands, geben sich gar ökologisch, feministisch, antirassistisch. „Vergesst nicht, dass wir alle Brüder sind“, lautet die erste Zeile einer Beschwörungsformel, die Heilung vor jedem ihrer Auftritte Hand in Hand aufsagen. Ihr Konzert beim Midgardsblot im Jahr 2022 gilt bei vielen Fans als legendär. In Foren und unter YouTube-Videos finden sich unzählige Kommentare, die die Liverituale der beiden Gruppen als spirituelle Erfahrung beschreiben. Und so ist das auch von den Künstlern intendiert. Wardruna spielten auch im vorigen Jahr auf dem Festival. Ein Traum-Line-up, dessen Rückkehr viele herbeisehnen. Ihre Idee ist, dass der Mensch, inspiriert von ihrer Musik, zum Animismus, laut einer Theorie die „Urreligion“, zurückfindet.
„Wir wollen den Indigenen nicht das Feuer stehlen. Wir leihen uns nur eine Flamme, um unser eigenes wieder zu entzünden“
Der zufolge habe jedes lebende Wesen, wie auch jedes unbelebte Objekt, eine Seele. Heilung beziehen sich dabei auch auf die Theorien des US-Anthropologen Michael Harner, der schrieb, dass alle Kulturen der Welt den gleichen spirituellen Kern haben, der durch schamanische Praktiken wie Trommelmusik wachgerufen werden kann. Dabei suchen die Neuheiden auch den Schulterschluss mit indigenen Kulturen, bei denen sie Ideale vom Leben im Einklang mit der Natur noch immer verwirklicht sehen. Doch statt bei den indigenen Völkern Feldforschung zu betreiben, wie es die Neoschamanen der 60er- und 70er-Jahre taten, sagen die europäischen Geistheiler, also neuheidnische Schamanen: Wir müssen nicht in die Ferne schweifen. Es gibt lokale Überlieferungen, auf die wir uns berufen können. Wenn es sich ergibt, gehen Heilung mit Angehörigen indigener Gemeinschaften auf die Bühne, so geschehen zum Beispiel mit Aborigines in Sydney. Das sei jedoch vor allem ein Ausdruck gegenseitiger Wertschätzung – „Cultural Appreciation“ statt „Cultural Appropriation“, sagt Kai Uwe Faust, der konzeptuelle Vordenker und Gründungsmitglied von Heilung. „Wir wollen den Indigenen nicht das Feuer stehlen. Wir leihen uns nur eine Flamme, um unser eigenes Feuer wieder zu entzünden.“
Für das diesjährige Midgardsblot-Festival waren gleich mehrere indigene Künstler gebucht, darunter die Sami-Sängerin Mari Boine und der US-Amerikaner Jon Krieger, der unter dem Namen Blackbraid extremen Black Metal mit Legenden der Native Americans paart. Der Headliner Blackbraid kreischt breitbeinig auf der Folkvangr-Stage mit verschmierter Kriegsbemalung im Gesicht. Es wirkt, als sei er gerade von einem blutigen Schlachtfeld ans Mikrofon getaumelt. Zwischen den Gitarrenattacken seiner Band erntet er mit einem meditativen Solo auf der traditionellen Holzflöte Szenenapplaus.
Krieger war schon vor seiner Karriere regelmäßiger Besucher des Midgardsblot. Er schätzt die Inklusivität des Festivals. Als Adoptivkind weißer Eltern möchte er in beiden Welten zu Hause sein. In Interviews mit Medien wie der „Times Union“ erläuterte er, dass die Native Americans und die europäischen Neuheiden gleichermaßen Opfer seien. „Die heidnischen Religionen in Skandinavien wurden einst von den Christen unterdrückt, die Menschen vergewaltigt und ermordet. Die meisten amerikanischen Indigenen, die ich kenne, würden sagen, dass sie die gleiche Behandlung durch weiße Christen erfahren haben.“ Religionsexperte Gregorius weiß: „Heiden in Europa und den USA, die sich ja selbst als Äquivalent einer indigenen Kultur begreifen, hören es gerne, wenn indigene oder Schwarze Menschen sagen: Wir haben einen gemeinsamen Feind.“ Die kolonialen Verbrechen würden so weniger schwer auf den Schultern wiegen, auch wenn die Heimatländer der mehrheitlich weißen Heiden noch immer vom kolonialen Erbe profitieren würden. „Diese vereinfachende Sichtweise lässt auch außer Acht, dass indigene Kulturen fast überall auf der Welt zu Minderheiten dezimiert wurden und im Gegensatz zu den westlichen Neuheiden heute noch immer ganz real Unterdrückung und strukturelle Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit erfahren.“
Gerade in Europa würden indigene Menschen noch immer romantisiert, erklärt Kim TallBear, Professorin für Native Studies an der Universität von Alberta. Dabei würde oft außer Acht gelassen, dass es sich um komplexe lebendige Gemeinschaften handelt „und nicht nur um Knochen in der Erde“. Die Wissenschaftlerin hat sich auf Fragen der DNA und den Begriff der Indigenität spezialisiert, von dem sie sagt, dass er zunehmend ausgehöhlt werde. Dass Neuheiden sich plötzlich in enger Verwandtschaft mit indigenen Kulturen meinen, wundert TallBear nicht, auch angesichts des in Nordamerika um sich greifenden Phänomens der sogenannten „Pretendians“ – Menschen, die vortäuschen, indigene Wurzeln zu haben, und dann für die indigene Bevölkerung sprechen. „Solche Leute sehen, dass indigene Völker heute mehr Anerkennung und Rechte erhalten und dass sie moralische Ansprüche stellen. Davon wollen sie etwas abhaben.“Rassisten? Hier doch nicht!
Wie oberflächlich die Empathie für indigene Lebenswirklichkeiten ist, zeigt sich dann auch beim Midgardsblot. Am letzten Festivaltag postet Jon Krieger alias Blackbraid auf Instagram, dass seine Band von Security Guards und einigen Besuchern des Festivals rassistisch beleidigt worden sei. Die Diskussion, die daraufhin auf den Social-Media-Kanälen der Community entbrennt, dreht sich fast ausschließlich darum, dass Krieger und seine Bandkollegen betrunken gewesen seien und die strengen norwegischen Alkoholgesetze missachtet hätten. Einige werfen ihm vor, die „Rassenkarte“ zu spielen. Norwegen sei aber nicht Amerika. Hautfarbe spiele keine Rolle, solange man sich an die Regeln halte. „Die Besucher des Midgardsblot erklären gerne, dass Sexismus, Rassismus und Homophobie in der Szene kaum verbreitet sind. Diese Menschen fühlten sich auf eine Art betrogen, als Blackbraid dann doch nicht ganz in dieses Narrativ einstimmte“, resümiert Gregorius. Auch hier zeigt sich ein Grundproblem der heidnischen Verbrüderung mit indigenen Gemeinschaften. Wer nie selbst Ziel rassistischer Angriffe wurde, kommt schneller zu der Schlussfolgerung: Alles halb so schlimm. Das macht diese Menschen nicht gleich zu Rassisten. Aber allemal zu schlechten Geschwistern.