Erinnerungslücke: Weshalb Chinas Künstler Corona nicht verarbeiten

Zwei der wichtigsten Regisseure Chinas, Jia Zhangke und Lou Ye, haben in ihren letzten Filmen die Corona-Zeit in ihrer Heimat zum Thema gemacht. In Jia Zhangkes „Caught By The Tides“ fungiert sie als tristes Hintergrundrauschen, während die schwierige, langjährige Liebesgeschichte der zwei Protagonisten endgültig zu Ende geht – eine Liebesgeschichte, deren Anfang sicher nicht zufällig mit dem Beginn der chinesischen Reformära zusammenfällt. Covid wird zur Zäsur, zum Ende der Hoffnung, dass es wieder besser werden wird.
Lou Yes „An Unfinished Film“ ist eine Art visuelles Covid-Tagebuch, das die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm verwischt – wie um zu fragen: Was ist damals wirklich passiert, und wer hat die Deutungshoheit darüber, wie man sich an diese Zeit erinnern darf? Offensichtlich nicht der Filmemacher selbst: Lou Yes Film, der in Taiwan mit dem Golden Horse Award für „Best Narrative Feature“ und „Best Director“ ausgezeichnet wurde, darf in China nicht gezeigt werden.
Jia Zhangke und Lou Ye gehören der sogenannten „Sechsten Generation“ chinesischer Filmemacher an, die in den 1990er-Jahren erstmals ins Rampenlicht trat. Ihre realistischen Filmwerke werden immer noch hochgehandelt, wenn es darum geht, das China der Gegenwart ungeschönt zu zeigen und Lehren aus den jüngsten Entwicklungen zu ziehen. Jia Zhangke und Lou Ye sind bislang die bekanntesten Künstler, die sich in der Rückschau mit der Corona-Zeit und den Zero-Covid-Maßnahmen auseinandersetzen.
Einfach anzupacken ist das Pandemie-Sujet nicht. Die offizielle Lesart ist noch immer, dass China alles richtig gemacht und als einziges Land die Pandemie effektiv eingedämmt hat, wozu auch die sogenannte „pro-aktive Anpassung“ im Dezember 2022 zählte, bei der die drakonische Null-Covid-Politik plötzlich beendet wurde. Werke, die die offizielle Version auch nur milde infrage stellen, sind nicht erwünscht. „Die Erzählung des Kampfes gegen die Pandemie darf nicht durch Lügen fehlgeleitet oder befleckt werden, sondern muss das richtige kollektive Gedächtnis der Menschheit bewahren“, brachte Vize-Außenministerin Hua Chunying die chinesische Erinnerungskultur auf den Punkt.
„Viele Menschen in China wollen tatsächlich nicht mehr an diese Zeit erinnert werden“, sagt Michael Kahn-Ackermann im Gespräch mit Table.Briefings. Der langjährige China-Kenner und Gründungsdirektor des Goethe-Instituts in Peking erlebte die Corona-Zeit selbst in Nanjing – einer Stadt, in der die Null-Covid-Maßnahmen „nicht so brutal und rücksichtslos durchgesetzt wurden wie etwa in Peking, Shanghai, Wuhan oder Xi’an“, wie er sich erinnert. Gerade in diesen Städten säßen die Ereignisse „noch immer vielen in den Knochen“, sagt er. „Die Menschen haben nicht mehr die Erwartung: Wenn ich alles richtig mache und mich ordentlich anstrenge, dann habe ich eine gute Zukunft vor mir. Für viele war das wie ein Naturgesetz – und plötzlich gilt es nicht mehr. Das ist ein zentraler Bestandteil des Post-Covid-Traumas.“
Der Exil-Autor Ming Shi bestätigt: „Die Covid-Pandemie war die erste Katastrophe, bei der sich die chinesische Mittelschicht als ‚Ganzes‘ ohnmächtig fühlte. Weder ihr Geld, noch ihre Verbindung nach oben konnten sie vor der Katastrophe bewahren.“ Privat spreche man noch immer über den Schmerz, die Wut, die Ängste und Entbehrungen dieser Zeit, aber bereits in WeChat-Gruppen greift bei dem Thema dann schon die Zensur. Die Kunst könnte ein Ventil für diese Gefühle sein, aber nur wenige wagen es, sich in einer Atmosphäre, in der selbst Halloween-Kostüme mit Corona-Bezug verboten werden, dem Thema künstlerisch zu nähern.
So etwas wie ein großer chinesischer Corona-Roman sei deshalb in der aktuellen Lage nicht zu erwarten, sagt Kahn-Ackermann. Eines der wenigen literarischen Beispiele einer Nach-Corona-Literatur sind die im Oktober 2023 erschienen „Stadtgeschichten 城事絮语“ des jungen Autors Jiang Yichun 蒋翊淳, der, basierend auf Interviews aus dem Leben gewöhnlicher Menschen in der frühen Phase der Pandemie in Shanghai erzählt. Laut Klappentext versucht das Werk, die chinesische Gesellschaft inmitten der großen Krise aus unterschiedlichen Perspektiven darzustellen und dabei „die Möglichkeit gegenseitigen Verständnisses und Mitgefühls zu erkunden.“ So weit, so diplomatisch.
Ai Weiwei, der während der Pandemie mit versteckten Kameras den drastischen Dokumentarfilm „Coronation“ produzierte, glaubt gar nicht erst, dass eine Fiktionalisierung der Ereignisse überhaupt hilfreich wäre, wie er Table.Briefings erklärt: „Heute erleben wir, wie die unmittelbare Ausdruckskraft des Internets sich direkt mit den Ereignissen der realen Welt überschneidet – es kommt zu einer Art Frontalzusammenstoß zwischen digitaler Wahrnehmung und Realität“, so Ai. „Klassische Filmnarrative wirkten auf die Zuschauer heute oft überflüssig und schwerfällig – eine künstliche Verzerrung der Realität, die das Publikum intuitiv ablehnt.“
Solchen Einschätzungen gegenüber stehen Eindrücke chinesischer Zuschauer, die einen Weg gefunden haben, den Film von Lou Ye trotz des Verbots zu sehen. Auf der chinesischen Social-Media- und Kulturplattform Douban beschreibt ein Nutzer mit dem Nickname 木炭栗绮 seine Eindrücke: „In dem Moment, als die Vordertür des Hotels blockiert wurde, spürte ich, wie sich mein Hals zusammenzog und ich kaum atmen konnte. Als ich weiter zusah, nahm ich den Geruch von Desinfektionsmittel wahr. Dies ist ein unvollendeter Film, und du und ich tragen jeweils unsere eigenen Szenen dazu bei.“ Ein anderer Nutzer namens 内有恶犬 schreibt: „Wenn Lügen das Leben zerstören, dann nutze Fiktion, um die Wahrheit zu erreichen.“
Der Künstler und Fotograf Wang Qingsong 王庆松, der während der Pandemie sein berühmtes Werk „On The Field Of Hope“ erschuf, glaubt, dass es Zeit braucht, bis die Pandemie sich aus dem kollektiven Gedächtnis umfassend Bahn in die Kunst brechen kann: „Die meisten chinesischen Künstler, Schriftsteller, Musiker und Filmemacher neigen dazu, ihre Gefühle und Gedanken auf eine sehr subtile Weise auszudrücken. Sie bevorzugen den Mittelweg“, sagt der 59-Jährige zu Table.Briefings. Viele Themen und Fragen müssen jedoch früher oder später aufgearbeitet werden, sagt er. „So wie China sich erst Jahrzehnte später mit den Folgen der Kulturrevolution auseinandergesetzt hat. Daher können wir erwarten, dass in Zukunft eine wahre Welle künstlerischer Werke entstehen wird.“