„Das Regime ist trotz allem sehr selbstbewusst“
Der chinesische Künstler Ai Weiwei hält die Entscheidungen der chinesischen Führung für chaotisch und verwirrend. Die abrupte Abkehr von Null-Covid bringe „Panik und Tod“. Dennoch sieht er keine Schwächung des Regimes. Zugleich bekräftigt er seine Kritik an der autoritätsgläubigen Einstellung der Deutschen. Die Fragen stellte Fabian Peltsch.
Es war ein turbulentes Jahr für China: Wir haben strenge Lockdowns gesehen, einen der wichtigsten Parteikongresse der vergangenen 30 Jahre, Aufruhr auf den Straßen und ein unerwartetes Ende von Null-Covid. Was hat Sie in diesem Jahr in China am meisten überrascht, und würden Sie das Jahr 2022 als einen Wendepunkt in der jüngeren chinesischen Geschichte betrachten?
Was heute in China geschieht, spricht für sich selbst. Trotz scheinbarer Klarheit sind sowohl Beobachter als auch Akteure innerhalb und außerhalb Chinas irgendwie verwirrt. Die Verwirrung ergibt sich aus der unvernünftigen, vom gesunden Menschenverstand und der Wissenschaft losgelösten Entscheidungs- und Umsetzungspraxis des Landes. Niemand weiß, warum die dynamische Null-Covid-Politik umgesetzt werden musste. Diese Maßnahmen löschten auf sehr brutale Weise grundlegende Eigenschaften der menschlichen Existenz aus und ließen die Menschen ohne Unterstützung durch Familien, Gemeinschaften, Freunde und medizinische Systeme zurück. In absoluten Zahlen ausgedrückt, wurden die Menschen wie Tiere regiert. Was uns in diesem Ausmaß dann doch überraschte.
Ja, in der chinesischen Kultur wird traditionell viel über Menschlichkeit nachgedacht, sowohl von den Regierenden als auch von den einfachen Menschen. Was China in den vergangenen drei Jahren während der Pandemie erlebt hat, ist beispiellos. Die plötzliche Wiedereröffnung steht im Widerspruch zur bisherigen Logik der Regierung und erschüttert das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Regierung und ihre Politik schlagartig. Außerdem führt sie zu einer enormen Anzahl von Covid-Fällen. Fast jeder hat sich mit Covid infiziert. Es gibt also viel Panik und Tod. Damit wird die Legitimität des Regimes und seiner Politik erneut infrage gestellt.
Das plötzliche Ende der Zero-Covid-Beschränkungen folgten unmittelbar auf die Proteste in Peking und Shanghai. Sehen Sie eine neue Zivilgesellschaft auf dem Vormarsch?
Ich glaube nicht, dass es in China eine Bürgerrechtsbewegung gibt. Die Proteste kamen spontan zustande, vergleichbar mit der Reaktion, wenn wir uns die Finger in der Tür klemmen oder uns den Kopf stoßen. Es gibt in China keine bewussten Bürgerrechtsbewegungen, weil es keine „Bürger“ im Sinne der westlichen Gesellschaft gibt: also Personen, die sich ihrer Informationsquelle bewusst sind und ihre Meinung kundtun, um eine Reaktion auszulösen, die der Gesellschaft zugutekommt. China unterliegt seit jeher einer strengen Zensur. Alle eingehenden Informationen und alle erlaubten Äußerungen werden streng kontrolliert. Abweichende Meinungen werden gelöscht und blockiert. Und Menschen mit abweichenden Meinungen werden verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.
Es ist also völlig falsch zu glauben, dass die Wiedereröffnung bedeutet, dass das Regime weich geworden ist. Die chinesische Regierung ist in jeder Hinsicht äußerst selbstbewusst, und das wird sich auch in Zukunft in ihrer Regierungsführung widerspiegeln.
Von außen betrachtet wirken Xi Jinpings Umgang mit Covid und das plötzliche Ende der Beschränkungen hilflos, widersprüchlich und chaotisch. Ist das eine Fehleinschätzung?
Die internationale Medienberichterstattung über China wird unabhängig von der Perspektive immer falsch sein. Wie soll man eine ungeordnete Regierung beurteilen, die ohne Logik agiert? Alle ihre Urteile werden sich als falsch erweisen. Die derzeit umgesetzte Politik bedeutet nicht, dass das Regime den Protesten nachgegeben hat. Tatsächlich sind alle Demonstranten verhaftet, und die Verhaftungen dauern noch an. Das löst kaum Reaktionen aus. Die Leute sorgen sich stattdessen eher um das Wohlergeben der Wirtschaft. Die politisch korrekte Parteilinie wird bei den Konjunkturproblemen jedoch kaum helfen.
Da der internationale Flugverkehr bereits im Januar 2023 ohne Quarantänemaßnahmen wieder aufgenommen werden könnte: Kann die Welt mit China bald wieder zur Tagesordnung übergehen?
Die ausländischen Geschäftsbeziehungen mit China werden wieder auf ein Niveau wie vor der Pandemie zurückkehren, da der internationale Handel in hohem Maße von China abhängig ist.
Was würden Sie den Menschen in China raten, die weiter langfristige Veränderungen fordern?
Ich habe keine Ratschläge zu geben. Ich habe mich einst selbst engagiert, wollte etwas verändern und habe hart dafür gearbeitet. Im Moment sitzen diejenigen, die sich genauso angestrengt haben, im Gefängnis. Unter einem solchen Regime funktioniert das alles nicht. Autokratische Regime sind dazu da, jegliche Bemühungen um den Aufbau einer Zivilgesellschaft zunichtezumachen.
Sie haben einmal gesagt: Die Macht der Kunst demütigt die politischen Eliten, wenn es um sozialen Wandel geht. Sehen Sie die weißen Blätter, die vielen Memes und die Wortspiel-Kritik in den sozialen Medien auch als eine Art künstlerischen Ausdruck?
Ich glaube nicht, dass es sich dabei um einen bewussten künstlerischen Ausdruck handelt. Diese Äußerungen sind so, wie sie sind, in Ermangelung besserer Optionen. Sie drücken nicht nur den Wunsch nach freiem Ausdruck aus, sondern verkörpern auch eine extreme Art von Hilflosigkeit.
Was ist Ihre größte Hoffnung für China und die Welt 2023?
Ich hoffe, dass China im Jahr 2023, wenn die Pandemie vorbei ist, zu einem gewissen Grad an Normalität zurückkehren kann. Was Taiwan betrifft, so bemüht sich das Regime der VR China um eine Lösung, aber ich denke, das Problem wird noch lange Zeit bestehen bleiben. Die Taiwan-Frage ist ein internationales Problem.
Welches sind die größten Gefahren, die wir sofort angehen müssen?
Die größten Gefahren sind heute nach wie vor die Konflikte zwischen zwei Welten: der herrschende Westen mit seiner alten Logik und seinen Globalisierungskonzepten gegen die neu entwickelten Länder wie China, Russland und andere, die eine weitere Entwicklung anstreben und eine andere Art von Ordnung vorschlagen. Es ist schwierig, diese beiden Welten miteinander in Einklang zu bringen. In Zukunft wird sich dieses Problem noch verschärfen.
Sie haben China vor acht Jahren verlassen. Was fehlt Ihnen am meisten?
Was ich vermisse, ist nicht China selbst, sondern vielmehr mein Recht, frei zu reisen. Zu diesem Recht gehört auch, dass ich zurückkehren kann, um meine Verwandten und Freunde zu besuchen.
Sie haben zwischen 2015 und 2019 in Berlin gelebt. Ihre Äußerungen, dass Deutschland autoritär und ausländerfeindlich sei, wurden breit diskutiert und auch politisch instrumentalisiert. Wie stehen Sie heute zu diesem Aufschrei? Fühlen Sie sich missverstanden?
Als Künstler überlege ich mir als erstes, wie ich meine Gefühle wahrheitsgetreu ausdrücken kann. Jeder kann die autoritären Züge Deutschlands beobachten, die tief in der Realität verwurzelt sind. Es ist ein kulturelles Problem und kann nicht von Einzelnen geändert werden. In jedem Land gibt es Anhänger des Autoritarismus, der Autokratie und sogar des Nationalsozialismus. Es ist nur so, dass jedes Land diese Gedanken in einer anderen Form und in einem anderen Ausmaß zum Ausdruck bringt. Deutschland weist in dieser Hinsicht meiner Meinung nach wesentliche Merkmale dieser Gedanken auf. Jeder Satz meiner Kritik ist richtig.
Sie sind nach wie vor eine der meistzitierten Personen chinesischer Herkunft in deutschen Medien. Ihre Stimme zählt, wenn es darum geht, China besser zu verstehen. Sie haben auch die Olaf-Scholz-Reise nach Peking nach dem Parteitag verteidigt. Was würden Sie jetzt deutschen und europäischen Politikern raten, wenn sie ihre China-Strategien planen?
Ich habe Olaf Scholz nie verteidigt. Was ich sagte: Sein Verhalten als Politiker ist nicht viel anders als das anderer Politiker. Deutschland schmeichelt sich nicht nur heuchlerisch bei der politischen Korrektheit (Anm. d. Red.: in China) ein. Es ist vielmehr bemüht, seinen eigenen Interessen gerecht zu werden. Scholz hat dafür keine Komplimente verdient. Was ich befürwortete, ist der politische Dialog. Oberflächlich betrachtet gibt es große Unterschiede in der Haltung der verschiedenen europäischen Länder, aber im Kern geben sie alle sich große Mühe, China bei Laune zu halten. Deutsche Politiker sind also nicht anders als andere Politiker in Europa.
Ai Weiwei, Künstler, geboren 1957, lebt derzeit in Portugal. Er setzt sich in seinen Werken mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen auseinander. In China war er 2011 für mehrere Monate im Gefängnis und danach mit einem Ausreiseverbot belegt. Von 2015 bis 2019 lebte er in Berlin und lehrte an der Universität der Künste. Danach wechselte er nach Großbritannien. Ai hat die Fragen schriftlich beantwortet.