Pop-Report Vietnam: Saigon Supersonics
Die vietnamesische Sängerin Pauline Ngoc
Als geheimes Signal für die Evakuierung hatte der Radiosender der amerikanischen Streitkräfte ausgerechnet Bing Crosbys „I Am Dreaming Of A White Christmas“ auserkoren. Tatsächlich war es ein regnerischer, schwül-heißer Frühlingstag, als sich die letzten Vertreter der geschlagenen Weltmacht vom Dach der US-Botschaft mit Hubschraubern aus dem Staub machten. Als die Vietcong am 30. April 1975 in die südvietnamesische Hauptstadt Saigon einmarschierten, verjagten sie nicht nur alle Besatzer und deren „Kollaborateure“, sondern vernichteten auch alles „neokolonialistische Gift“, das mit ihnen ins Land gekommen war. Der Spiegel-Korrespondent und spätere Bestseller-Autor Tiziano Terzani, der die „Befreiung“ als einer der wenigen westlichen Journalisten aus nächster Nähe miterlebte, kabelte aufgeregt an seine Redaktion nach Hamburg, was damit gemeint war:
Ganze Stapel von Playboy-Magazinen, Schallplatten und alten amerikanischen Propaganda-Postern bringen die Mülltonnen im Zentrum zum Überquellen. Abends bleiben die Bars geschlossen, die Neonlichter ungenutzt, keine Popmusik dröhnt mehr durch die Straßen. Es herrscht keine Ausgangssperre mehr, aber um neun Uhr ist die Stadt wie leergefegt.
Die Architekten der vietnamesischen Wiedervereinigung hatten ganze Arbeit geleistet. In kürzester Zeit verwandelten die nordvietnamesischen Kommunisten das in Ho-Chi-Minh-Stadt umgetaufte Saigon in eine Metropole, die einem Bauernstaat würdig war. Relikte aus der Zeit der Besatzung wurden vernichtet und per Gesetz verboten, darunter auch die vietnamesische Rock-und Popmusik, die im Schatten des Vietnamkrieges eine kurze, aber fruchtbare Blütezeit erlebt hatte. Es war eine eigenwillige Mischung, wie sie nur in einem Land wie Vietnam hatte entstehen können, das fast 100 Jahre unter Fremdherrschaft gestanden hatte. Durch die Franzosen, die hier 1858 ihren ersten Indochina-Stützpunkt errichteten, hielt nicht nur der Prachtboulevard und das Baguette Einzug in die vietnamesische Kultur, sondern auch fremde Musikstile wie Chanson, Rumba, Bolero oder der heiße Yéyé-Beat aus Paris. Nach dem Abzug der Franzosen wurde Vietnam bei der Genfer Indochina-Konferenz 1954 in einen westlich beeinflussten Süden und einen kommunistischen Norden aufgeteilt, die einander feindlich gegenüberstanden. Als die Amerikaner Mitte der 60er-Jahre größere Truppenverbände nach Vietnam schickten, um in dem Stellvertreterkonflikt zwischen Ostblock und „freier Welt“ das Ruder herumzureißen, folgte auch die Rock-und Soulmusik in das tief gespaltene Land. In den Wirren des immer heftiger wütenden Vietnamkrieges versprach die Musik für viele Städter ein Stück Normalität und bot zudem die Chance, die eigene Familie zu ernähren. Viele der lokalen Tanzbands, die Nacht für Nacht in den Bars und Clubs von Saigon auftraten, oder die GIs auf US-Militärbasen mit Coversongs unterhielten, machten kaum einen Unterschied zwischen France Gall, Motown, Hendrix oder Elvis. Bis Ende der 60er-Jahre hatten Bands wie die provokant benannten Shotguns oder die All-Female-Combo Blue Stars die fremden Einflüsse in eine ureigene Rock ‚N‘ Roll-Spielart verbacken, die mal nostalgisch und sehnsüchtig und mal verrucht und cool aus den Verstärkern dröhnte. Falls Quentin Tarantino jemals einen Film über den Vietnamkrieg drehen sollte – hier wird er für den Soundtrack mehr als fündig. Die vietnamesische Presse nannte die Musik aufgrund ihrer explosiven Qualität „Kich Dong Nhac“ – „Action Music“. Die Regierung nahm ihre Wirkung auf die Bevölkerung zunächst nur missbilligend zur Kenntnis. „Ein Beat pumpt durch die Nachbarschaft. In den Bars und Nachtclubs spielt unsere langhaarige Jugend auf Instrumenten, die ihrer Elterngeneration noch gänzlich unbekannt waren“, schrieb eine staatliche südvietnamesische Zeitung 1968 hörbar irritiert.
Man darf nicht vergessen: Auch der Süden Vietnams war während der Kriegsjahre strukturell eine Diktatur. Proteste wurden nicht geduldet, aufrührerische Schüler und Studenten ohne Prozess verhaftet. Immerhin erkannte die Regierung unter dem Einfluss der Amerikaner mehr und mehr die Soft Power der Pop-und Rockmusik, was soweit ging, dass unter der Ägide des Psychological Warfare Bureau im Mai 1971 eine Art vietnamesisches Woodstock stattfinden konnte, zu dem rund 7000 Besucher ins Saigon-Zoo-Stadion strömten, darunter auch viele GIs, die mit Peace-Zeichen um den Hals und wild gepflücktem Gras in der Pfeife nachholten, was sie zuhause an Gegenkultur verpassten. Auch einzelne Lieder dienten nun dazu, die Truppenmoral zu stärken, etwa „7 Old Tet Wishes“, ein 1972 veröffentlichter Neujahrsgruß, in dem Sängerin Ngọc Giau zum klagenden Klang einer vietnamesischen Nhi-Geige darum bittet, dass der Armee des Südens endlich die Stärke zum Sieg zuteilwerde. In den meisten Liedern tauchte der Krieg jedoch allenfalls subtil auf, etwa als Liebesgeschichte zwischen einem Soldaten und einer Krankenschwester (Kim Loan – Can Nha Ngoại O/Home In The Suburb) oder als Traum einer letzten gemeinsamen Feier unter Kameraden, wenn endlich Frieden eingekehrt sein wird (Thanh Lan – Tinh Dem Lien Hoan/The Farewell Party Night).
Richtig instrumentalisieren ließ sich die vietnamesische Rock-und Popmusik allerdings nie. Im Gegenteil: Pazifistische Lieder wie das von einer trauernden Mutter handelnde „Ngu di con“ von Songschreiber Trinh Cong Son und Sängerin Khanh Ly rüttelten die Jugend Vietnams eher auf, ähnlich wie die Musik von Bob Dylan und Joan Baez die Protestbewegung in den USA am Sinn des Krieges zweifeln ließ. Hinzukam, dass sich die Orte ihrer Aufführung immer wieder selbst in Kriegsschauplätze verwandelten. In der Nacht zum 8. April 1971 detonierte bei einem Konzert der Hardrockband CBC eine im Saal platzierte Bombe – just in dem Moment, als die Geschwister-Truppe die ersten Takte von Jimi Hendrix‘ „Purple Haze“ angestimmt hatte. Unter den Toten war auch ein 14-jähriges Mädchen, das sich nur kurz hineingeschlichen hatte, um einen Blick auf ihren Schwarm, den Drummer Tung Van, zu erhaschen. Anschläge wie dieser blieben traurige Fußnoten in einem aussichtslosen Zermürbungskrieg, bei dem am Ende über zwei Millionen Zivilisten ihr Leben ließen. „Ich war in Vietnam“ ist heute zu einem markigen Spruch in Hollywoodfilmen verkommen. Im Land, in dem er stattfand, ist der „amerikanische Krieg“, wie man ihn hier nennt, noch immer eine schlecht verheilte Wunde. Er hat Existenzen zerstört und Familien auseinandergerissen. Über eine Million Südvietnamesen mussten nach 1975 vor der Verfolgung durch die Kommunisten fliehen, als sogenannte „Boat People“ riskierten hunderttausende davon auf hoher See ihr Leben, darunter auch viele Musiker, denen man eben noch auf den Bühnen Südvietnams zugejubelt hatte. Dass viele Lieder, die zwischen 1955 und 1975 entstanden, bis heute in Vietnam verboten sind, muss man auch im Kontext dieses Traumas sehen: Vordergründig mögen sie nur von verlorener Liebe handeln, von verregneten Tagen oder der Hoffnung auf den nahenden Frühling – zwischen den Zeilen hört ein Vietnamese jedoch sofort die schwere, nicht vollends aufgearbeitete Geschichte seines Landes heraus. Gerade die tief empfundene Schwermut und Sehnsucht nach besseren Zeiten, die in vielen Songs mitschwingt, ist der sozialistischen Regierung bis heute ein Dorn im Auge, da sie den Mythos der freudvollen Befreiung nach 1975 untergräbt.
„In dieser Musik stecken komplizierte Gefühle, die man lieber unter Verschluss halten möchte“, erklärt Jan Hagenkötter. Der Frankfurter mit der eckigen Brille ist einer der größten westlichen Experten auf dem Gebiet der sogenannten „Nhạc Vang“ – der „Golden Music“, wie man die vor 1975 veröffentlichte, sehr facettenreiche Rock-und Popmusik des südostasiatischen Landes auch zusammenfasst. Seit knapp zehn Jahren pendelt Hagenkötter zwischen Deutschland und Vietnam, immer auf der Suche nach Aufnahmen, die den nordvietnamesischen Säuberungsaktionen entgangen sein könnten. In den Plattenläden des Landes sucht man Vinyl von Künstlern wie Khánh Ly, Hùng Cường oder Mai Lệ Huyền heute vergebens (im traurigen Gegensatz zu Alben von Modern Talking, deren „You’re My Heart, You’re My Soul“ auf keiner vietnamesischen Hochzeit fehlen darf – Anm. d. A.). Dabei veröffentlichten Labels wie Sóng Nhạc oder Continental neue 7“ Inches damals fast im Wochentakt. Die aufgrund von Ressourcenknappheit oft auf farbigem Vinyl-Plastik-Gemisch gepressten Singles waren in der Regel Mini-Compilations mit bis zu vier unterschiedlichen Interpreten. Die einzige Konstante war jeweils die Backing-Band, die jedoch nie auf dem Cover abgebildet war. Alben eines einzigen Künstlers bildeten in dieser Zeit die Ausnahme.
Um die begehrten Sammlerstücke zu finden, die damals für den Binnenmarkt produziert wurden, muss man tief graben, sagt Hagenkötter. Am Anfang tingelte er an naheliegende Orte wie die „Antique Street“, eine Flohmarktmeile im Zentrum Saigons. „Mit der Zeit hatte ich von dort rund 60 7 ”-Singles angesammelt“, erinnert er sich an die ersten Etappen seiner Schatzsuche. „Die meisten von ihnen waren jedoch in einem katastrophal schlechten Zustand. Ein Großteil war so massiv zerkratzt, dass es nach mutwilliger Zerstörung aussah.“ Nur selten fand Hagenkötter ein Exemplar mit dazugehörigem Cover. Papier war in dem vom Krieg verarmten Land bis Anfang der 80er-Jahre ein knappes Gut, die meisten Sleeves landeten im Recycling, wodurch das Vinyl noch mehr den Elementen ausgesetzt war. „Wirklich anhören konnte man davon wenig“.
Hagenkötter, der seit Anfang der 90er-Jahre in Frankfurt das New-Jazz-Label INFRAcom! betreibt, hatte Blut geleckt. Er erweiterte seine Recherche auf Online-Portale und vietnamesische Kleinanzeigen, wobei ihm seine vietnamesischstämmige Frau und seine Homebase in Ho-Chi-Minh-City half, die Sprachbarriere zu überwinden. Er fand Gleichgesinnte wie den Pariser Anwalt Antoine Toussaint, der unter dem Namen DJ Datodeo in Vietnam Platten auflegt und ebenfalls eine Leidenschaft für den Vintage-Sound der 60er- und 70er-Jahre entwickelt hatte. Zusammen machten sie sich im ganzen Land auf die Suche nach Sammlern und Musikliebhabern, die ihre unversehrten Platten und Reel-2-Reel-Tapes oft wie Schätze hüteten. „Man geht da nicht als Käufer hin und verschwindet wieder“, resümiert Hagenkötter. „Man lernt sich kennen, isst oder trinkt was miteinander. Und wenn man sich gut versteht, und sich sympathisch ist, kann man irgendwann vielleicht was kaufen.“
Die Geschichten, die sein Freund und er auf ihren Erkundungstouren hörten, waren dabei oft mindestens so aufregend wie die musikalischen Funde. „Einmal waren wir in Hanoi bei einem älteren Sammler zu Besuch, der das Haus voller Platten hatte“, erinnert sich Hagenkötter. “Wir hatten gut zwei Stunden zusammengesessen und Musik gehört, als sich plötzlich herausstellte, dass der Mann einst als hochdekorierter General bei den Vietcong gedient hatte! Das war ein faszinierendes Erlebnis für mich, weil es mir zeigte, dass Musik die alten Gräben überwinden kann.“ Weil der Labelmacher mit seiner Familie ohnehin regelmäßig in Vietnam ist, begann in ihm eine Idee zu reifen: Müsste man diese Musik nicht einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen? Müssten nicht gerade junge Vietnamesen die Möglichkeit haben, das verlorene Kapitel ihrer Popgeschichte aufzuholen? Hagenkötter beschloss, die Lieder, die er auf seiner Suche ans Licht förderte, auf einer Compilation herauszubringen. Schnell stellte sich heraus, dass das Projekt, für das Hagenkötter den Titel „Saigon Supersounds“ wählte, zur nervenaufreibenden Mammutaufgabe werden würde. „Ich habe in dieser Zeit bestimmt 200 Singles und 400 Alben durchgehört – und meine Mitmenschen damit sicher auf die ein oder andere Geduldsprobe gestellt.“ Geduld war von Anfang an das Stichwort, was vor allem mit dem bemitleidenswerten Zustand der Platten zusammenhing. Der Staub, der tief in die Rillen und Kratzer vorgedrungen war, machte eine Eins-zu-Eins-Digitalisierung oft unmöglich. „Manchmal hingen die Platten auch erst, nachdem ich den Dreck entfernt hatte“, sagt Hagenkötter lachend. Oft waren nur einzelne Passagen innerhalb eines Songs hörbar, so dass er auf gut Glück mehrere Exemplare ein-und derselben Platte auftreiben musste, um das Ganze dann aus verschiedenen Quellen am Computer zusammenzusetzen und zu entknacksen. Eine Alternative zu der aufwändigen Restaurierung blieb ihm meist nicht: Fast alle Studios waren nach 1975 enteignet oder vernichtet worden. Von den Masterbändern fehlt heute jede Spur. Auch die Rechteinhaber der Stücke lassen sich so gut wie nie ermitteln. „Es gibt all diese Strukturen nicht mehr“, sagt Hagenkötter. „Die Labels sind verschwunden. Verträge gibt es keine.“
Für den Fall, dass die Sammler ihre Stücke nicht aus der Hand geben wollten, reiste Hagenkötter oft mit Laptop und Vorverstärkern an, um sie gleich vor Ort zu digitalisieren. Aber auch die Übertragung gut erhaltener Exemplare sei kein Spaziergang gewesen, erklärt er. Oft wiesen die Platten einen verschiedenen Abnutzungsgrad und eine unterschiedliche Materialzusammensetzung auf, weswegen er ein ganzes Arsenal verschiedenster Nadeln in Stellung bringen musste. „Die Platten sind mono. Die sind nicht für hochwertige Plattenspieler gemacht worden, sondern für Kofferspieler. Das sind keine High-End-Produkte, ganz im Gegenteil. Ich musste da viel mit elliptischen und sphärischen Tonnadeln rumprobieren, um den besten Klang rauszuholen“, erinnert er sich.
In seltenen Fällen wurde Hagenkötter auch bei Ebay fündig. Gerade in Frankreich, den USA und Australien, den Ländern, in denen die größte vietnamesische Diaspora lebt, tauchten immer wieder hochinteressante Stücke im Internet auf, oftmals zu Preisen zwischen 130 und 260 US-Dollar. Hagenkötter vermutet, dass es sich teilweise um Platten handelt, die Flüchtlinge mit ihrem wenigen Hab und Gut außer Landes schmuggelten, oder solche, die später im Zuge der Familienzusammenführung in die neue Heimat gelangten. „Diese Singles werden wie Familienfotos gehütet und sind meist weit besser erhalten, als das was du in Vietnam findest.“ Für viele Auslandsvietnamesen sind Lieder wie Y-Vâns
„Sài Gòn“ bis heute Hymnen, in denen das ganze Heimweh nach einem Land steckt, das so für immer verschwunden ist. Auch an diese Menschen dachte Hagenkötter, als er seine Compilations auf den Weg brachte. Und er dachte an seine Kinder, die eines Tages Fragen stellen könnten über die turbulente Geschichte ihrer Großelterngeneration.
„Saigon Supersounds“ ist in Vietnam nicht offiziell erschienen. Bis heute wird in dem kommunistischen Land alles, was an Kulturgütern veröffentlicht wird, minutiös von den Behörden geprüft. Auch wenn sein Frankfurter Label außer Reichweite der Zensoren liegt, haderte Hagenkötter lange, ob er geschichtlich besonders aufgeladene Lieder mit auf die Platte nehmen sollte, etwa „Song Cho Nhau“, eine Lobeshymne auf die Militäroperation “Passage to Freedom“, bei der die US-Navy zwischen 1954 und 1955 hunderttausenden Nordvietnamesen zur Flucht in den Süden verhalf. Am Ende überwog jedoch der Wille zur Vollständigkeit und er entschied sich, das Stück Zeitgeschichte auf die erste Seite zu packen. „In den vier Jahren, an denen ich an der Compilation arbeitete, hat sich viel getan“, erklärt Hagenkötter. „Immer wieder gab es Stücke, die plötzlich wieder erlaubt waren, aber auch solche, die man ohne Angabe von Gründen plötzlich verbot. Die Frage ist dann immer: Wird sowas durchgesetzt oder nicht? Man weiß nie genau, wo die Grenze verläuft.“
Probleme hat er seit der Veröffentlichung seiner mittlerweile zweiteiligen Reihe keine bekommen, weder am Zoll noch bei seinen DJ-Gigs, wo er die alten Platten in kleinen Bars auflegt. „Die Reaktionen waren im Gegenteil durchweg positiv“, sagt Hagenkötter. „Einmal kam eine ältere Frau mit ihrer Tochter zu mir ans DJ-Pult und erklärte, dass sie nicht geglaubt habe, noch einmal junge Vietnamesen zu dieser Musik tanzen zu sehen. Das war ein sehr emotionaler Moment für mich.“ Auch unter Sammlern hätten ihm die „Saigon Supersound“-Alben viele Türen geöffnet. „Die Vietnamesen sind stolz, dass ihre Musik auch außerhalb ihres Landes auf Resonanz stößt.“
Ermutigt von dem Erfolg der beiden Sampler nahm Hagenkötter ein weiteres Herzensprojekt in Angriff: Als Manager und Produzent der Band „Saigon Soul Revival“ versucht er die Lieder der goldenen Ära nicht nur aufleben zu lassen, sondern sie soundtechnisch in die Gegenwart zu transportieren. „Die 60er- und 70er-Jahre sind in vielen Ländern wegweisende Jahre für die Popkultur gewesen, auch in asiatischen Ländern wie Indonesien“, erklärt Hagenkötter die Idee hinter dem Projekt. Die Band könne eine Vorstellung davon vermitteln, wie vietnamesischer Pop klingen könnte, wenn die Lieder von damals nicht aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt worden wären.
Hagenkötter hatte die Gruppe, die aus vier jungen Vietnamesen und einem gebürtigen Zyprioten besteht, über den gemeinsamen Freund Antoine Toussaint kennengelernt und sie für die Release-Partys seiner „Saigon Supersounds“-Reihe engagiert, woraufhin bald eine enge Zusammenarbeit entstand. Ihr auf Hagenkötters Label veröffentlichtes Debüt „Hoa Am Xua“ aus dem Jahr 2019 steht eindeutig im Erbe der 60er-und 70er-Jahre – der Titel bedeutet soviel wie „alte Harmonien“ – modernisiert den Sound jedoch mit Reggae-, Jazz- und Funk-Anleihen. Sechs Eigenkompositionen und fünf Cover sind auf dem Album vertreten. Sie gehen jedoch so nahtlos ineinander über, dass der Laie keinen Unterschied hört. Für das zum Ska-Stück umarrangierte „Giay Phut Cuoi Tuan“ aus dem Jahr 1970 konnte die Band sogar Mai Le Huyen als Gastsängerin verpflichten. Die 1946 geborene Musikerin war in der Hochzeit des vietnamesischen Rock ‚N‘ Roll ein Star und für ihren trockenen Humor und ihre gewagten Bühnenoutfits bekannt. „Hao Hoa“, ein hundertfach gecoverter Klassiker aus dem Jahr 1971, erfährt durch den in Saigon beheimateten Rapper Blacka ein überraschendes Update. „Er war eines Tages zu einem Gig der Band gekommen und hatte bei „Hao Hoa“ das Mikro geschnappt und einfach losgerappt“, erinnert sich Hagenkötter. „Er liebt den Song seit seiner Kindheit. Dass er dann auch aufs Album musste, war uns allen schnell klar.“
In Vietnam, das die Corona-Epidemie trotz ähnlich hoher Einwohnerzahl wie Deutschland gut überstanden hat, können Saigon Soul Revival mittlerweile wieder auftreten. Wenn man die versierte Live-Band mit ihrer Twist tanzenden Sängerin auf der Bühne sieht, wirkt das alles tatsächlich etwas aus der Zeit gefallen. Nach den sogenannten „Doi Moi“-Reformen Mitte der 80er-Jahre hat Vietnam wie viele andere sogenannte „Pantherstaaten“ Asiens eine rasante Modernisierung durchgemacht. Städte wie Hanoi und Ho-Chi-Minh-City eifern heute den futuristischen Hochhauswäldern Chinas nach. Die wachsende Mittelschicht wird von einer massiven Entertainment-Industrie bedient, mit Castingshows, Soap-Operas und V-Pop, dem hiesigen Äquivalent zu den K-Pop-Stars Südkoreas. Auch international schlagen vietnamesischstämmige Künstler immer größere Wellen, etwa die Rapperin Suboi die auf dem hippen New Yorker Label „88rising“ veröffentlicht oder der Schriftsteller Viet Thanh Nguyen, der mit seiner Vietnamkriegs-Groteske „Der Sympathisant“ 2016 den Pulitzer-Preis gewann. Braucht es bei solch einer Gegenwart überhaupt noch den Anschluss an längst vergangene Zeiten? „Dass die Songs zur Aussöhnung mit einer schwierigen Vergangenheit beitragen, will ich mir nicht anmaßen“, sagt Hagenkötter. „Ich sehe die Band und die Sampler eher als einen Beitrag zu einem Selbstfindungsprozess – zurück zu einer handgemachten, ureigenen Popkultur, die es so nirgendwo sonst auf der Welt gegeben hat“.
Interview mit Pauline Ngoc:
„Unsere Konzerte wurden häufig durch Vietcong-Beschuss unterbrochen“
Als Tochter eines schwarzen Franzosen und einer Vietnamesin hatte Pauline Ngoc es seit ihrer Kindheit nicht leicht. Trotzdem gelang es der Sängerin mit der souligen Stimme, in ihrer Heimat im Schatten des Vietnamkriegs zum Star zu werden. Als die Vietcong Saigon eroberten musste sie wie so viele andere Hals über Kopf fliehen. Über Umwegen landete die Musikerin schließlich in der Pfalz, wo sie plötzlich wieder vor amerikanischen Soldaten auf der Bühne stand.
Als der Vietnamkrieg tobte, waren Sie in Saigon eine bekannte Musikerin. Wie haben Sie die Stimmung zwischen 1965 und 1975 erlebt? Wie wichtig war Musik damals für Sie?
Die Musik war und ist bis heute mein Lebensinhalt! Damals war sie für ein dunkelhäutiges Mädchen wie mich die einzige Überlebenschance und darüber hinaus auch die einzige
Verdienstmöglichkeit in dieser von Angst geprägten Stimmung. Meine Sehnsucht nach Freiheit war mein Motor und meine Stimme mein Kapital, um das triste Lebensumfeld hinter mir zu lassen.
Mit der Mädchenband „Blue Stars“ sind Sie damals in den Nachtclubs der Stadt aufgetreten, auch vor amerikanischen GIs. Wie war es für Sie, in so einer Atmosphäre als Musikerin auf der Bühne zu stehen?
Meine Auftritte mit „Blue Stars“ waren meine glücklichsten Momente. Die Clubs, in denen wir auftraten, waren wie Schmelztiegel; sie gaben das kulturelle Leben vor und die GIS waren dankbar für Unterhaltung und Musik. Geld spielte für sie keine Rolle. Sichere Orte für Frauen waren die Clubs natürlich nicht. Durch meine zunehmende Bekanntheit hatte ich allerdings einen anderen Status, der mir auch einen entsprechenden Schutz bot. Den hatten leider nicht alle Musikerinnen. Frauen waren damals in Vietnam und insbesondere während des Krieges gesellschaftlich nicht geachtet.
Welches Lied fasst diese Zeit am besten für Sie zusammen?
Diese Zeit kann ich schwer auf einen Song reduzieren. Die Vorgabe in den Clubs war es, die
Soldaten mit nachgespielten Hits zu unterhalten. In den Clubs, in denen die GIs verkehrten, spielten wir die Top 40, also CCR, die Beatles mit „Hey Jude“ oder „Don’t let me down“… aber auch, und das passt zu meiner Stimme, „Respect“ von Aretha Franklin oder „Only You“ von den Platters. In diesen Clubs sangen wir aber auch Antikriegslieder wie „The Night They Drove Old Dixie Down“, oft zusammen mit der sogenannten „Barfußkönigin“ Khanh Ly. Solche Songs waren in den Officer Clubs natürlich streng verboten.
Hatten Sie jemals Angst, dass eine Bombe im Club hochgehen könnte, wie es ja hin-und wieder passiert ist, unter anderem bei einem Auftritt der Band CBC?
Ich hatte ständig große Angst, aber ich lernte, damit zu leben und die Angst in den Ablauf der Auftritte zu integrieren. Unsere Konzerte wurden auch häufig durch Vietcong-Beschuss unterbrochen, der auf amerikanische Lager in der Nähe von Saigon abgefeuert wurde. Das war dann das Signal für uns alle, in den Bunker zu flüchten. Sobald die Sirenen das Ende des Angriffs signalisierten, spielten wir weiter.
Ihre Mutter war Vietnamesin, ihr Vater farbiger Franzose aus Madagaskar. Waren Sie aufgrund Ihrer Hautfarbe eine Außenseiterin?
Natürlich war ich Außenseiterin. Ich wurde von meiner Mutter schon kurz nach der Geburt
verstoßen und wuchs bei meiner Oma in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Ich
besuchte eine französische Schule, und auch hier war ich ausgegrenzt, wurde
gehänselt und gedemütigt. Erst als Sängerin konnte ich aufatmen und fand in Saigon
als „Black Pearl -Ngoc Den“- Akzeptanz. Im damaligen Vietnam war ich außergewöhnlich und exotisch.
Nach 1975 mussten Sie wie so viele andere südvietnamesische Musiker aus dem Land entkommen. Wie lief Ihre Flucht ab? Konnten Sie persönliche Gegenstände wie zum Beispiel Schallplatten mitnehmen?
Nachdem die Vietcong Saigon eingenommen hatten, wurden alle meine Bücher,
Schallplatten und Kassetten zerstört. Der Vietcong war da ohne Kompromisse. Meine Musik wurde verboten. Ich konnte nichts retten. Ich habe mehrmals versucht zu fliehen, was mir aber nicht gelang. Dank der Hilfe von Präsident Giscard D‘Estaing konnte ich schließlich ausreisen – zuerst nach Marseille, dann nach Paris, wo ich wieder als Sängerin arbeiten konnte. Ich habe die französische Staatsbürgerschaft. Man ließ damals viele dunkelhäutige Menschen ausfliegen, da man – zu Recht – davon ausging, dass der Erzeuger ein französischer oder amerikanischer Soldat war.
Über Umwege sind Sie dann schließlich in Deutschland gelandet. Wie kam es dazu?
Ich habe lange Zeit in Paris gelebt, aber auch in Afrika und in den USA. Die Anwesenheit der Amerikaner in Kaiserslautern, genauer gesagt in Ramstein, war dann für mich ein Grund nach Deutschland zu kommen. Kaiserslautern ist die amerikanischste Stadt in Europa – auch das war ausschlaggebend. Deutschland ist heute meine Home-Base. Hier lebe und arbeite ich seit 32 Jahren als Sängerin. Hier habe ich meinen Mann kennengelernt, geheiratet und
Kinder bekommen. Hier habe ich mein Leben neu gestaltet. Dennoch fühle ich
mich auch zu Paris hingezogen, ebenso zu den USA, zum Beispiel Orange County, wo viele
Südvietnamesen leben.
In der Pfalz sind Sie dann wieder vor GIs aufgetreten. Wurden da Erinnerungen an die Zeit in Saigon wach?
Nein, da kamen keine Erinnerungen auf. Soldaten, die sich im Krieg befinden, sind
nicht mit den Stationierungskräften in Deutschland zu vergleichen. Das ist sehr
gesittet und friedlich. Soldaten im Krieg sind Tötungsmaschinen, und so verhalten sie
sich auch. Da ist Leben nicht viel wert. Das Leben von Frauen noch viel weniger. Da gibt es keinen Respekt.
Sie sind bis heute als Musikerin tätig und haben Alben mit Chansons veröffentlicht. An welchen Projekten arbeiten Sie derzeit?
Ich habe eine eigene Chanson-Reihe namens „Nuit de la Chanson“, die schon im 6. Jahr erfolgreich läuft. Zudem unterstütze ich meine Landsleute in Deutschland, Frankreich, den USA und Kanada bei ihren Veranstaltungen musikalisch. Dazu reise ich viel in der Welt herum. Zurzeit arbeite ich an einer neuen CD – „Tears&Smiles“ -, die Wolfgang Dahlheimer von den Heavytones produziert. Sie soll im Sommer erscheinen. Darüber hinaus habe ich ein Buch über mein Leben mit dem Titel „Black Pearl, Ngoc Den“ geschrieben. Außerdem gibt es ein Drehbuch, das noch einen Produzenten sucht…
Hören und singen Sie heute noch die alten Hits aus der Zeit des Vietnamkrieges?
Ja, manche Songs habe ich noch immer in meinem Repertoire. Wenn ich sie singe werde ich
noch sentimental und nachdenklich.
Wann waren sie das letzte Mal in Vietnam? Hat sich das Land zum Besseren gewandelt?
Im Jahr 2000 war ich das letzte Mal in Vietnam – das Land war schöner als zuvor,
lauter als zuvor, aber das alte Saigon war verschwunden.