Klimaschützer und Popstars: So prägt die indigene Bevölkerung Taiwan heute

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Die indigene Bevölkerung Taiwans ist heute so sichtbar wie nie. Für die demokratische Regierung in Taipeh repräsentiert sie eine taiwanische Identität, die nichts mit Festland-China zu tun hat. Doch Benachteiligung und Diskriminierung gibt es noch immer.

„Wilde“ oder „Bergmenschen“, wie man sie früher abfällig titulierte, nennt die Indigenen Taiwans heute niemand mehr. Im Gegenteil: Nie in der jüngeren Geschichte der Insel waren die Nachkommen der Ureinwohner so sichtbar und angesehen wie jetzt. Im Sport und in der Popmusik etwa hat die indigene Minderheit die größten Stars Taiwans hervorgebracht – zum Beispiel Aljenljeng Tjaluvie alias ABAO, eine der bekanntesten Pop-Sängerinnen des Landes. Die Texte ihrer von Hiphop und Soul beeinflussten Musik textet sie seit ein paar Jahren nicht mehr in Mandarin, sondern auf Paiwan, der Sprache ihrer Ahnen.

„Als ich um das Jahr 2015 erstmals traditionelle Paiwan-Lieder aufnahm, wurde mir klar, dass wir ein Volk ohne schriftliche Aufzeichnungen sind“, sagt Tjaluvie im Interview mit Table.Media. „Gleichzeitig haben wir unser Leben immer in Liedern und Gesängen festgehalten.“ Ihre Mutter und Großmutter hätten sie früh an die musikalische Tradition ihres Stammes herangeführt. Nun wolle sie ihrerseits junge Indigene für ihre Muttersprachen begeistern, von denen heute einige vom Aussterben bedroht sind.

Langer Weg zur Akzeptanz

Taiwans indigene Völker mussten viel erdulden. Ab dem 16. Jahrhundert wurden sie erst von chinesischen, dann von holländischen und schließlich von japanischen Besatzern bekämpft und unterdrückt. Viele Stämme wurden vom Land ihrer Vorfahren in die Berge vertrieben. Während der japanischen Kolonialzeit und der Ära des Kriegsrechts von 1949 bis 1987 waren ihre Sprachen verboten. Wer dennoch dabei erwischt wurde, sie zu benutzen, wurde bestraft, geschlagen und öffentlich gedemütigt. Laut einem Bericht der Unesco starben in dieser Zeit mindestens sieben Sprachen der Ureinwohner für immer aus.

Seit Beginn der Demokratisierung in den 80er-Jahren fanden Bürgerrechtsgruppen der indigenen Bevölkerung in Taiwan erstmals Gehör. Es dauerte jedoch bis Mitte der Nullerjahre, dass Taiwans Regierung ihre Belange mit einem „Grundgesetz für die indigenen Völker“ gezielt förderte. Und noch länger, bis sich ein taiwanisches Staatsoberhaupt bei den Ureinwohnern entschuldigte: „Seit 400 Jahren hat jedes Regime, das nach Taiwan gekommen ist, die Rechte der indigenen Völker durch bewaffnete Invasion und Landnahme brutal verletzt“, erklärte Präsidentin Tsai Ing-wen, die selbst indigene Wurzeln hat, im Jahr 2016.

„Dafür entschuldige ich mich bei den indigenen Völkern im Namen der Regierung.“ Heute schmückt sich Taiwan mit der kulturellen Vielfalt der Indigenen. Der 1. August ist seit 2005 ihr offizieller Feiertag. Das alles hat aber nicht nur mit Menschenliebe zu tun. Mit der Vereinnahmung der Indigenen verweist Taiwans demokratische Regierung auch auf eine taiwanische Identität, die nichts mit dem chinesischen Festland zu tun hat.

Diskriminierung bleibt ein Problem

Mindestens seit 5.000 Jahren leben Ureinwohner auf der Insel. Aufgrund sprachlicher Ähnlichkeiten vermuten Ethnologen, dass sie auf austronesische Volksgruppen von den Pazifikinseln zurückgehen, die in mehreren Wellen eingewandert sind. Heute machen ihre Nachfahren rund zwei Prozent der 23,5 Millionen Taiwaner aus. Offiziell werden 16 Stämme von der Regierung anerkannt.

Der Großteil lebt in den ländlichen Küstenregionen um Hualian und Taitung im Osten der Insel. Auch Tjaluvies Familie stammt von hier. „Viele Menschen verstehen noch immer nicht, wie das alltägliche Leben einer ethnischen Minderheit aussieht“, resümiert sie. Seit ihre Eltern jung waren, habe sich gesellschaftlich jedoch viel getan. „Besonders junge Menschen nutzen heute Social Media, um indigene Kultur der Gegenwart zu zeigen, anstatt nur Stereotype zu reproduzieren.“

Einer diese jungen Menschen ist Kaisanan Ahuan. Der 30 Jahre alte Aktivist setzt sich für die Rechte indigener Völker, aber auch für Klimaschutzbelange ein. Ahuan gehört zur Minderheit der Taokas, ein Stamm mit zwischen 2.000 und 3.000 Angehörigen, der bislang nicht von der Regierung anerkannt wird und deshalb kaum staatliche Unterstützung erfährt.

Auch wenn Taiwans Gesellschaft heute offener ist, gibt es noch immer Diskriminierung und Benachteiligung, sagt Ahuan im Gespräch mit Table.Media. Die indigenen Minderheiten gehören weiterhin zu den ärmsten Bewohnern der Insel. Ihr Haushaltseinkommen liegt 40 Prozent unter dem Landesdurchschnitt. Fragen von Landnutzung, Jagdrechten, Altersversorgung und Selbstverwaltung bleiben Problemfelder und Streitthemen mit der Regierung.

„Die Mehrheit der Han-Bevölkerung hat ein bestimmtes Bild von uns. Dass wir zu viel trinken und faul sind“, erklärt er. Immer wieder käme es zu Konflikten. Manche Taiwaner halten die Indigenen für übervorteilt, etwa durch Aufnahmequoten an Hochschulen. „Als ich an der Uni in Taipeh studierte, machten die anderen Witze. Sie fragten: ‚Bist du auf einem Wildschwein her geritten?‘ Ich fand das nicht lustig.“

Klimawandel betrifft Indigene als Erstes

Ein weiteres Problem, das besonders Indigene betrifft, sei der Klimawandel, sagt Ahuan. „Wenn sich die Natur ändert, merken wir das früher als die Menschen in der Stadt.“ Im vergangenen Jahr hatten etwa heftige Regenfälle in Südtaiwan mehrere indigene Dörfer überschwemmt. Drei waren komplett von der Außenwelt abgeschnitten, 400 Menschen waren ohne Essen und Wasser. „Naturkatastrophen wie Fluten und Dürren passieren immer häufiger. Wir müssen auf solche Dinge in der Zukunft besser vorbereitet sein.“

2021 und 2022 hat er „Fridays for Future“-Proteste in Zentral-Taiwan und Taipeh mitorganisiert. Mit seiner „Central Taiwan Ping-pu Indigenous groups Youth Alliance“ will er indigene Sprachen bewahren, die Taiwaner aber auch auf die Folgen des Klimawandels vorbereiten. „Wir glauben, dass wir als Indigene ein gutes Wissen über die Natur haben, deshalb wollen wir aufzeigen, wie wir Naturkatastrophen in Zukunft überleben können, etwa in dem wir vermitteln, welche Pflanzen in den Bergen essbar sind und welche von ihnen medizinische Wirkung haben.“ Nach seinem Studium der Elektrotechnik ist Ahuan selbst von Taipeh zurück in sein Dorf Waraoral in der Nähe der Stadt Puli gezogen, um traditionelle Anbautechniken zu lernen. „Wir sollten diese Dinge in der Schule beigebracht bekommen“, findet er.

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