„Politiker-Besuche in Taiwan sind Teil eines großen Theaterstücks“

Fabian Peltsch im Gespräch mit Lung Ying-tai

Lung Ying-tai, Bestsellerautorin und ehemalige Kulturministerin Taiwans, findet sowohl bei Menschen in ihrer taiwanischen Heimat als auch auf dem Festland Gehör. Sie tritt für mehr gegenseitiges Verständnis ein, verteidigt aber vehement demokratische Rechte. Damit macht sie sich auf beiden Seiten Feinde. Fabian Peltsch traf die streitbare Schriftstellerin zum Gespräch in Taiwan.

Ihre Bücher und Essays werden seit 40 Jahren von chinesischsprachigen Menschen auf der ganzen Welt gelesen. Auch auf dem Festland gehören sie zu den bekanntesten Autorinnen. 2019 wurden ihre Bücher dort jedoch verboten. Wie kam es dazu?

Schon vor 2019 waren bestimmte Bücher von mir auf dem Festland verboten, zum Beispiel „Big River Big Sea: Untold Stories of 1949“, ein Buch über den chinesischen Bürgerkrieg, der ja bis heute anhält. 2019 schrieb ich einen kurzen Artikel in Verteidigung der Hongkonger Proteste, und das führte dazu, dass all meine Bücher aus den Regalen der Buchläden und Schulbibliotheken entfernt wurden. Das hatte ich erwartet. Aber ich bekomme immer noch Mails und Briefe von Lesern aus China. Sie benutzen einen VPN, um mir zum Beispiel Nachrichten über Facebook zu senden. Verglichen mit der Zeit vor 2019 ist es natürlich um einiges weniger geworden.

Sie haben sich in vielen Ihrer Bücher darum bemüht, den Taiwanern eine Stimme zu geben. Wie empfinden Sie die derzeitige geopolitische Aufmerksamkeit, die Taiwan bekommt? Sind ausländische Delegationen, die Präsidentin Tsai Ing-wen die Hand schütteln wollen, eher ein Fluch oder ein Segen für die Sicherheit der Insel?

Das alles entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Wegen Streitigkeiten mit China wurde Taiwan 50 Jahre lang von der internationalen Gemeinschaft isoliert. Und jetzt schwärmen all diese ausländischen Delegationen und Korrespondenten auf die Insel, weil unsere Heimat die „Frontlinie“ geworden ist, oder wie der Economist schrieb: „der gefährlichste Ort der Welt“. Ist das nun ein Fluch oder ein Segen?

Der Besuch von Nancy Pelosi war nur ein Akt in einem größeren Theaterstück. Die beiden Hauptdarsteller in diesem Stück sind die USA und China. Taiwan hat darin nicht viel zu sagen. Ja, die Gefahr einer Invasion ist real. Sie war nicht mehr so real seit den 1950er-Jahren. Aber wie nah sie wirklich ist, kann niemand vorhersagen. Es sind zu viele Faktoren involviert. Wir wissen nicht, wie sich die Beziehungen zwischen den USA und China fortentwickeln. Wir wissen nicht, wie der Krieg in der Ukraine ausgehen wird. Wie sich dieser Krieg weiter entwickelt, wird große Auswirkungen auf das Schicksal Taiwans haben.

Fühlen sich die Taiwaner heute so bedroht wie nie?

Außenseitern ist oft nicht klar, dass sich Taiwan seit 70 Jahren an der Front befindet. Wir sind in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass jederzeit ein Krieg ausbrechen kann. Besonders meine Generation – ich wurde in den 1950er-Jahren geboren – wuchs mit der Mentalität von Belagerten heran. Schauen Sie auf den Ozean vor uns: Taiwan ist von Wasser umgeben, aber viele Taiwaner können nicht schwimmen. Warum? Als Kinder haben wir uns nicht getraut, am Strand zu spielen, geschweige denn ins Wasser zu springen. Die 1.200 Kilometer lange Küstenlinie war eine militärische Zone, die von Soldaten bewacht wurde, die Gewehre und Bajonette trugen. Kindern wurde gesagt, sie sollen sich vom Strand fernhalten, weil Froschmänner aus China über die Meerenge schwimmen und uns mit einem Messer zwischen den Zähnen anspringen könnten. Bis heute sind viele Zugänge zum Wasser nicht öffentlich. Spuren der Belagerungs-Mentalität finden sich überall.

Fühlen sich die Menschen also jetzt gerade bedrohter als zuvor? Ja und Nein. Mehrere Generationen leben nun schon so lange mit der Wahrscheinlichkeit, dass ein Krieg ausbricht, dass viele Menschen taub für die Realität geworden sind. Wie kann man sich auch 70 Jahre in Alarmbereitschaft befinden? Taiwan ist nun schon lange eine friedliche und florierende Gesellschaft, da wird es immer schwieriger, sich einen Krieg vorzustellen. Ja, die Menschen sind sich der Gefahr bewusst, aber sie fühlt sich für sie auch irreal an.

Die Regierung möchte den Militärdienst verlängern. Gleichzeitig formieren sich zivile Verteidigungsgruppen wie die „Forward Alliance“, um Taiwans Bürger besser auf einen möglichen Angriff vom Festland vorzubereiten.

Die Verlängerung der Wehrpflicht erfolgte vermutlich eher auf Druck der USA als auf Wunsch der taiwanischen Bürger. Die Selbstverteidigungsorganisationen, von der Sie sprechen, werden tatsächlich immer mehr. Da ist zum Beispiel die sogenannte „Black Bear Academy“, die von einem reichen Geschäftsmann gegründet wurde, der der Meinung ist, Taiwan müsse die Chinesen bis auf den Tod bekämpfen. Die Gruppe bildet jeden aus, der sich auf ein Gefecht vorbereiten möchte. Für die meisten Menschen bleibt eine friedliche Lösung jedoch nach wie vor das Hauptziel und ein Krieg bleibt schwer vorstellbar. Und das gilt vermutlich auch für die taiwanische Regierung. 2022 hat das Verteidigungsministerium eine Richtlinie für nationale Notfälle herausgegeben, worunter auch ein Kriegsfall fällt. Im Falle eines Stromausfalls, so heißt es da, solle man die Service-Hotline des Stromversorgers Taiwan Power anrufen. Die ganze Sache wurde zum Witz.

Glauben Sie, die Taiwaner würden sich gegen China im Falle eines Angriffs mit ebenso vereinigten Kräften wehren wie die Ukrainer gegen die russischen Invasoren?

Wenn es darum geht, tatsächlich zu den Waffen zu greifen, habe ich meine Zweifel. Der Glaube an das demokratische System und den taiwanischen Way of Life sind Konsens in Taiwan. Aber wie man dieses System schützt und den Way of Life aufrechterhält, darüber sind sich die Menschen uneinig.

Dass die Taiwaner noch immer sehr geteilt sind, liegt an unserer Geschichte, die bestimmte Erinnerungen hinterlassen hat. Es gibt Menschen, die sich vollkommen von China entfremdet fühlen und die sich der Unabhängigkeit Taiwans verschrieben haben, koste es was es wolle. Dann gibt es Menschen, die denken, dass die Chinesen und die Taiwaner trotz aller ideologischen Unterschiede Brüder und Schwestern sind und dass ein Krieg unter allen Umständen verhindert werden muss. Es gibt Menschen, die für mehr gegenseitiges Verständnis über die Taiwan-Straße hinweg werben. Sie machen die derzeitige Regierung dafür verantwortlich, Taiwan an die Schwelle eines Krieges gebracht zu haben. Und dann gibt es Menschen, die glauben, dass die USA schuld an der Krise sind und dass Taiwan das Opfer in einem hegemonialen Spiels ist. Nicht zuletzt gibt es noch die Bauern und Fischer. Für viele von ihnen ist es vor allem wichtig, viel zu produzieren und zu fangen und an die Märkte Chinas zu verkaufen. Sie finden es nicht wichtig, welche Flagge über ihren Köpfen weht, solange ihr Lebensunterhalt gesichert ist und ihre Kinder in Sicherheit sind.

Auf welcher Seite sehen Sie sich selbst?

Ich bin gegen Krieg. Egal wie. Und für diese Position wurde ich online massiv angefeindet. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass Taiwan sich bewaffnet, um eine wirksame Abschreckung zu erreichen. Wir sollten aber nie vergessen, dass Abschreckung nur Teil eines größeren und ehrlichen Bemühens sein kann, einen Krieg zu vermeiden. Im Moment wird nur darüber gesprochen, zur Abschreckung aufzurüsten. Wenig oder gar keine Aufmerksamkeit wird darauf verwendet, wie man einen Krieg verhindert.

Würden Sie sich wünschen, dass die Rolle der USA in diesem Konflikt stärker diskutiert würde?

Die Position der USA ist, dass Taiwan sich bis an die Zähne bewaffnen muss. Um das zu erreichen, muss Taiwan Waffen von den USA kaufen. Und die USA wollen eine Menge Waffen an Taiwan verkaufen. Wenn du dich aber nur darauf konzentrierst, dein Militär auszubauen, ohne etwa Anstrengungen zum Verhandeln zu unternehmen, dann befindest du dich auf einem gefährlichen Weg. Unter einer anderen Regierung hatte Taiwan funktionierende Beziehungen zu China, was Strafverfolgung, Handelsabkommen und viele andere Bereiche betraf. Aber so wie es gerade läuft und seit einer Weile verfolgt wird, soll die Insel in eine Art Stachelschwein verwandelt werden. Das bereitet mir große Sorgen.

Welche Hoffnungen setzen Sie in Verhandlungen mit China?

Das Leben besteht nicht nur aus Politik. Was ist mit der Öffnung von Häfen oder der Einrichtung von Direktflügen? Über eine Million Taiwaner lebt in China. Wenn man ihre Familienmitglieder dazuzählt, kommt man auf vier bis fünf Millionen Taiwaner, bei einer Gesamtbevölkerung von 23 Millionen, die eine nahestehende Person haben, die in China wohnt oder arbeitet. Wie wäre es, wenn man mehr Flughäfen öffnen würde, damit diese Menschen es einfacher haben, nach Hause zu reisen? Wie wäre es, wenn man mehr chinesischen Studenten erlauben würde, nach Taiwan zum Studieren zu kommen? Wie wäre es, mehr Touristen willkommen zu heißen? Wie wäre es, chinesische Schriftsteller und Künstler und für kulturelle Austauschprogramme einzuladen? Natürlich muss das in beide Richtungen geschehen. Viele Barrieren wurden von chinesischer Seite aufgebaut. Aber, was ich meine ist, dass sich China und Taiwan nicht in einer Spirale der Feindlichkeit verfangen sollten. Guter Wille und sanfte Kommunikation können einen Krieg verhindern.

Wie empfanden Sie die Proteste junger Menschen in Hongkong 2019 und in China Ende vergangenen Jahres? Sollten jüngere Generationen in Taiwan, Hongkong und China mehr miteinander in Kontakt treten? Viele von Ihnen teilen offenbar die gleichen Ideale, wie etwa Meinungsfreiheit.

Es gab weitreichendes und robustes Networking zwischen jungen Menschen in Taiwan und Hongkong während der Proteste in Hongkong. Viele der Hongkonger, die an der Bewegung mitwirkten, sind nun in Taiwan im Exil. Nicht alle wurden von der taiwanischen Regierung freundlich willkommen geheißen, aber die Unterstützung für die Hongkonger in Taiwan hält an. Mit China verhält es sich anders. Dort gibt es viele junge Menschen, die ihrer Regierung kritisch gegenüberstehen, aber sie haben keine Möglichkeit, das öffentlich auszusprechen. Wie Hanna Arendt sagte: Das erste, was eine autoritäre Regierung unternimmt, ist dich einsam zu machen. Sie bringt dich zum Schweigen und isoliert dich von Gleichgesinnten, sodass du niemals genau weißt, wie viele da draußen noch deiner Meinung sind. Du wirst um die Möglichkeit gebracht, deine Ideen zu teilen und von anderen inspiriert zu werden. Die chinesische Regierung setzt das sehr effektiv um mithilfe von High-Tech. Ich denke Chinas Intellektuelle gehören heute zu den einsamsten Menschen der Welt.

Lung Ying-tai 龍應台prägt als Schriftstellerin seit über 40 Jahren gesellschaftliche und politische Debatten in der chinesischsprachigen Welt. Ihre Bücher „Wild Fire“ und „Big River, Big Sea“ gelten als Meilensteine auf dem Weg zu einem taiwanischen Selbstbewusstsein. Ab 1987 lebte sie für einige Jahre in Heidelberg, wo sie an der Universität taiwanische Literaturunterrichtete. Von 2012 bis 2014diente sie unter Präsident Ma Ying-jeouals erste Kulturministerin Taiwans. Ihr jüngstes Werk „Am Fuße des Kavulungan“ erschien Anfang März bei Drachenhaus auf Deutsch. Lung Ying-tai lebt heutean der südöstlichen Küste Taiwans.

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