Darf man Xi einen Diktator nennen?
Xi Jinping ist empört, weil Biden und Baerbock ihn öffentlich einen Diktator nennen. China hat andere Begriffe und ein anderes Verständnis davon, was einen Alleinherrscher ausmacht. Und doch geht es bei der Kontroverse um mehr als Worte – nämlich um die Deutungshoheit politischer Narrative und darum, wer sie nach innen und außen verbreiten darf.
Die Empörung kommt für viele Menschen im Westen überraschend: Weil der US-amerikanische Präsident Joe Biden und nun auch Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock den chinesischen Staatschef Xi Jinping einen Diktator nannten, wurden prompt die jeweiligen Botschafter der Länder in Peking einbestellt. Die Bezeichnung Xis als Diktator sei „absurd“, „unverantwortlich“, eine „schwere Verletzung der politischen Würde Chinas“ und darüber hinaus auch „eine offene politische Provokation“. Das Oxford English Dictionarydefiniert den Begriff „Diktator“ als „absoluten Herrscher eines Staates“. Also was ist Xi, wenn kein Diktator? Und warum reagiert ausgerechnet er darauf plötzlich so dünnhäutig? Schließlich steht bereits in Artikel 1 der chinesischen Verfassung, dass sich die Partei verpflichtet, „die demokratische Diktatur des Volkes zu wahren“.
„Der Begriff Diktator ist im Chinesischen etwas anders gelagert als im Deutschen“, erklärt Daniel Leese, Sinologie-Professor an der Universität Freiburg. Zu seinen Schwerpunkten zählen Geschichte und Politik des
Modernen China. Im Chinesischen gibt es die Begriffe „renmin minzhu zhuanzheng“ (人民民主专政)für die demokratische Diktatur des Volkes und „ducai zhe“ (独裁者) für den Diktator, der sich über alle anderen erhebt. „Die Begriffe haben also unterschiedliche Ebenen. Ducai zhe ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert negativ besetzt im Sinne eines Tyrannen oder eines Despoten. Das würde in der Regel niemand als Selbstbezeichnung verwenden, während die Diktatur des Proletariats positiv besetzt ist aus KP-Sicht.“
Schon Jiang Zemin wollte kein Diktator sein
Tatsächlich verbaten sich schon frühere chinesische Staatschefs, von westlichen Beobachtern als Diktatoren bezeichnet zu werden. „Sie denken, ich bin eine Diktatur?“, entgegnete etwa Jiang Zemin dem Journalisten Mike Wallace in gebrochenem Englisch während des berühmt gewordenen „60 Minutes“-Interviews aus dem Jahr 2000. Aus seiner Sicht sei die Bezeichnung „so absurd, als stamme sie aus den Geschichten von Tausendundeine Nacht“, lachte der damals 74-Jährige. Er sei nur ein Mitglied des Politbüros, und ohne die Zustimmung der anderen Mitglieder würde nichts beschlossen, wodurch er unmöglich ein Diktator sein könne.
„Die Frage der Dynamik zwischen Führer und Volk und Partei und Volk wurde in unterschiedlichen Phasen der Kommunistischen Partei unterschiedlich interpretiert“, sagt Leese. Mao hatte die Idee von der Diktatur des Volkes als theoretischen Eckpfeiler im politischen System der Volksrepublik verankert. Im marxistisch-leninistisch-stalinistisch-maoistischen Sinne ist eine Diktatur demokratisch, weil sie die Kommunisten ermächtigt, alles zu tun, was sie für notwendig halten, um dem „Volk“ zu dienen – oder besser gesagt, dem Volk, auf das es ankommt: der Arbeiterklasse. Der Große Vorsitzende identifizierte sich dabei jedoch gleichzeitig und auch nur halb-ironisch mit Qin Shi Huang, dem ersten Kaiser, der Jahrhunderte lang in China als Musterbeispiel eines gewalttätigen Despoten galt. „Nach Maos Tod setzte sich der Konsens durch, dass sich keine Person über die anderen in der Partei erheben dürfe, es also keine Ein-Personen-Herrschaft in der Partei geben dürfe“, erklärt Leese den Schrecken, den Mao bei chinesischen Politikern wie Deng Xiaoping hinterlassen hatte.
Begriffe wie Demokratie werden umgewertet
Womit wir wieder bei Xi Jinping wären. Er hat die Einbettung in ein herrschendes Kollektiv, auf das Jiang Zemin verwies, zunehmend ausgehöhlt. Er hat die Begrenzung der Amtszeit zu seinen Gunsten aufgehoben. Innerhalb des Parteiapparats hat er Rivalen aus dem Weg geräumt. Seine „Xi-Jinping-Gedanken“ wurden zum ideologischen Pflichtprogramm, und auch sonst fördert Xi einen Personenkult, den sich seine Vorgänger niemals getraut hätten. „Es gibt immer weniger Mitbestimmung des chinesischen Volkes, aber auch innerhalb der Partei, wie die Fälle um den verschwundenen chinesischen Außenminister und den Verteidigungsminister zeigen“, sagtAngela Stanzel, Forscherin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Das sind alles Anzeichen einer Diktatur. Deshalb hat die Bezeichnung auch ihre Berechtigung.“
Die Empörung darüber, Diktator genannt zu werden, hat auch damit zu tun, dass Xi kontrollieren möchte, welche Narrative über ihn auf der Weltbühne bestimmend sind – und das selbstbewusster denn je. Dass man sich in China nicht von außen über die eigenen Verhältnisse belehren lassen will, zieht sich als roter Faden durch seine gesamte bisherige Amtszeit. Xi Jinping will die Deutungshoheit behalten und dabei gleich auch Begriffe, etwa den der Demokratie, umwerten.
Baerbock wollte ein Signal an die USA senden
Ob sich die deutsche Außenministerin all dieser Dinge bewusst war, als sie bei Fox-News erklärte, Xi sei ebenso wie Putin ein Diktator? Sicher ist, dass sie damit in verschiedene Richtungen ganz bewusst ein Signal senden wollte. „Man kann natürlich kritisieren, dass die deutsche Außenministerin so etwas in einem öffentlichen Rahmen sagt und chinesische Empfindlichkeiten verletzt“, sagt Angela Stanzel. „Ich glaube aber, dass Baerbock vor allem ein Signal an die USA und die Verbündeten gesandt hat und nicht unbedingt an China, nämlich, dass wir die Bewertung von Xi als Führer eines autoritär auftretenden Staates teilen.“
„Der Elefant im Raum ist, dass es fast keinen Autokraten gibt, der sich selbst als Diktator bezeichnet“, erklärt Leese. In kritischen chinesischen Kreisen werde Xi Jinping jedoch spätestens seit seiner Aufhebung der Amtszeitbegrenzung durchaus auch als Ducai zhe bezeichnet, also als Diktator in unserem Sinne. „Ich denke, auch daher rührt ein Teil der derzeitigen Dünnhäutigkeit.“