Sanxingdui: „Archäologie mit chinesischen Merkmalen“
China erlebt gerade ein goldenes Zeitalter der Archäologie. Im Mittelpunkt stehen die spektakulären Funde von Sanxingdui, die das Bild einer einheitlichen chinesischen Identität herausfordern. Xi Jinping will, dass die Ausgrabungsstätte als eine der wichtigsten archäologischen Entdeckungen des Jahrhunderts anerkannt wird. Altertumswissenschaft ist in China eben immer auch politisch.
Die archäologischen Funde von Sanxingdui wirken wie aus einem surrealen Grusel-Film: Gigantische, Kastenköpfe. Kreaturen mit Stielaugen. Hybridwesen mit Schlangenkörpern und Vogelbeinen. Dazu ein vier Meter hoher Baum aus Bronze, auf dessen Ästen geheimnisvolle Vögel thronen. Sehen kann man die dramatisch ausgeleuchteten Artefakte im Sanxingdui-Museum im nordöstlichen Teil der Ausgrabungsstätte, rund 40 Kilometer von Sichuans Hauptstadt Chengdu entfernt.
Eine rätselhafte Kultur hat sie vor rund 3.000 Jahren in acht Opfergruben versenkt, von denen sechs seit ihrer Entdeckung Mitte der 1980er-Jahre freigelegt wurden. Ende März haben Archäologen weitere Objekte der Öffentlichkeit präsentiert, darunter einen Altar und eine Truhe in Form eines Schildkrötenpanzers. „Spektakuläre Funde“, wie Prof. Dr. Maria Khayutina, Sinologin und Expertin für das vorkaiserliche China an der LMU München, gegenüber China.Table erklärt. „Die westliche Welt interessiert sich leider recht wenig für Entdeckungen außerhalb ihres Kulturraums. Was man nicht kennt, wird oft einfach ignoriert.“
In China wurde in diesem Frühjahr dagegen tagelang live von den Grabungen berichtet. Sanxingdui ist hier längst Teil der Popkultur. Bei der diesjährigen CCTV-Neujahrsgala, dem größten Fernseh-Event der Welt, wurde eine Choreografie mit Sanxingdui-Hologrammen aufgeführt. Auf chinesischen E-Commerce-Seiten kann man Turnschuhe mit Sanxingdui-Motiven kaufen, auch T-Shirts, Stifthalter, Eis am Stiel und Emojis gibt es in Form der markanten Bronzeköpfe. 2016 kündigte Chinas Filmindustrie sogar einen von US-Starregisseur James Cameron co-produzierten Blockbuster an, in dem ein Besucher aus der Fremde die Sanxingdui-Kultur kennenlernt. Die Hauptrolle in „The Guest of Sanxingdui“ soll niemand Geringerer als Arnold Schwarzenegger spielen, der auch gleich als internationaler Botschafter für die archäologische Stätte verpflichtet wurde
Tatsächlich halten nicht nur chinesische Historiker Sanxingdui für eine der bedeutendsten archäologischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts – bedeutender noch als die Terrakotta-Armee aus Xi‘an. Gleichzeitig wirken die Objekte so fremdartig, dass sie sich größtenteils nicht in eine Reihe mit anderen Funden aus China einordnen lassen. Wer waren die Erschaffer dieser seltsamen Werke? Welchen Zweck hatten sie? Schriftstücke oder menschliche Überreste fehlen, was die Sache noch rätselhafter macht. Im vergangenen Jahr sah sich die staatliche Zeitung Global Times sogar genötigt, einen Artikel zu veröffentlichen, in dem ein außerirdischer Ursprung der Sanxingdui-Zivilisation ausgeschlossen wurde.
Chinas Geschichte müsste neu geschrieben werden
Lange Zeit war es unter Chinas Historikern Konsens, dass sich die chinesische Zivilisation entlang des mittleren Tals des Gelben Flusses entwickelt hat. In den zentralen Ausgrabungsstätten von Anyang förderten Archäologen in den 1920er-Jahren Überreste der letzten Hauptstadt der Shang-Dynastie zutage. Hier entdeckte man auch einen Großteil der berühmten Orakelknochen, die als erste Beweise für die chinesische Schrifttradition gelten.
Während der Ausgrabungen wütete der Bürgerkrieg, wenig später marschierten die Japaner ein. Beides fachte die Sehnsucht nach einer einheitlichen chinesischen Identität noch an. Jungsteinzeitliche Ausgrabungsstätten im Verlauf des Yangzi oder Bronzefunde in Gansu hatten die Theorie der Wiege der Zivilisation im Herzen Chinas nach der Kulturrevolution bereits zum Bröckeln gebracht. Doch erst die hoch verfeinerten Bronze-Objekte im von Bergketten abgetrennten Sanxingdui stellten das alte Weltbild auf den Kopf.
Nach offizieller chinesischer Lesart handelt es sich bei den Sanxingdui-Stücken um Relikte des Königreichs Shu, das mehr als 2.000 Jahre bestanden haben soll. Die Shu sind jedoch mehr „Mystery als History“. „Shu ist als Name eines Königreichs bekannt, welches im heutigen Sichuan 1.000 Jahre später existierte“, sagt Khayutina. „Ob zwischen ihm und Sanxingdui ein direkter Zusammenhang bestand, halte ich für nicht eindeutig geklärt.“ Einige Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass die Menschen von Sanxingdui Verbindungen zu Kulturen in Birma, Zentralasien und Indien pflegten. Die Hobbywissenschaftlerin Su San erklärt in zwei Büchern gar, dass die Sanxingdui-Gesellschaft vom Roten Meer abstamme. Die Beweislage dafür ist allerdings ebenso dünn wie die Behauptung, Sanxingdui hätte in regem Austausch mit Aliens gestanden.
Beweis für Vielfalt der chinesischen Kultur
Chinesische Historiker suchen in Sanxingdui heute vor allem nach Gemeinsamkeiten. Professor Zhao Hao von der Peking Universität, der an den Grabungen in Grube Nr. 8 beteiligt ist, erklärte vergangene Woche im Staatsfernsehen, dass man Grundmotive der chinesischen Kultur wie Drachen oder die für die Shang-Dynastie typischen Zun-Gefäße auch in Sanxingdui findet. „Die Idee von einer Kultur, in der verschiedene Einflüsse zusammenkommen, passt viel besser zum Konzept einer modernen Nation als das alte Weltbild“, erklärt Khayutina. Und tatsächlich gilt Sanxingdui in China heute vor allem als Beweis dafür, wie vielfältig die chinesische Kultur auch außerhalb des vermeintlichen Zentrums erblühte.
Staatspräsident Xi Jinping, der die Anerkennung von Sanxingdui als Unesco-Weltkulturerbe persönlich vorantreibt, weiß um die Macht eines nationalen Mythos, der das Bild vom diversen und friedliebenden Handelspartner in Zeiten der Neuen Seidenstraße unterstreicht (China.Table berichtete). Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua zitierte ihn im Oktober 2021 mit den Worten, dass die Ausgrabungen von Sanxingdui „den Ursprung und die Entwicklung der chinesischen Kultur, ihre glorreichen Errungenschaften sowie ihre großen Beiträge zur Kultur dieser Welt offenbaren.
Bombastische Museumsanlagen
Auch dank Xi erlebt China gerade ein „Goldenes Zeitalter der Archäologie mit chinesischen Merkmalen“, schreibt die South China Morning Post. Während die Sanxingdui-Funde in den 80er-Jahren noch auf Fahrrädern abtransportiert wurden, gehört die Ausgrabungsstätte heute zu den modernsten der Welt. Mehr als 120 Wissenschaftler aus dem ganzen Land arbeiten hier. Über den Gruben wurden Labore errichtet, in denen Luftfeuchtigkeit und Temperatur exakt austariert werden. Die Archäologen stecken in Schutzanzügen. Kein Haar und keine Hautschuppe soll die Radiokarbon- und DNA-Untersuchungen verfälschen.
Auch eine neue, 30.000 Quadratmeter große Ausstellungshalle für die jüngsten Funde ist in Planung. „China schätzt sein kulturelles Erbe und instrumentalisiert es auch“, sagt Khayutina. „An jedem bedeutenden Fundort werden bombastische Museumsanlagen eröffnet, von denen Europa nur träumen kann.“
Die Ausgrabungen in den letzten verbliebenen Opfergruben sollen Anfang nächsten Jahres abgeschlossen sein. Die Forschung über die Sanxingdui-Kultur stehe jedoch erst am Anfang, sagt Wang Wei, Historiker an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften in Peking. „Der nächste Schritt ist die Suche nach größerer Architektur, in der zum Beispiel der zuletzt gefundene Altar gestanden haben könnte”. Dann wird vielleicht auch das für die chinesische Geschichtsschreibung drängende Rätsel gelöst, wie diese hoch entwickelte Zivilisation so plötzlich von der Bildfläche verschwinden konnte.