Science-Fiction-Autor Chen Qiufan: „Wir sind mehr als Daten“
Wer China verstehen will, muss seine Science-Fiction-Literatur lesen. Spätestens seit Barack Obama und Mark Zuckerberg Liu Cixins „Trisolaris“-Trilogie durch Empfehlungen in die Bestsellerlisten katapultierten, gilt das als ausgemacht. In China, so das Narrativ, hat die Zukunft längst begonnen: Mit riesigen Investitionen in Zukunftstechnologien wie Robotik, künstliche Intelligenz (KI) und Raumfahrt will die Volksrepublik schon 2025 zur weltweit führenden Tech-Macht werden. Wo früher rotwangige Arbeiter das Rückgrat des Ein-Parteien-Staates bildeten, sollen nun datensaugende Computerhirne den großen Sprung nach vorn bescheren – hinein in eine smart vernetzte, goldene Ära, die in Megastädten wie Shenzhen und Shanghai bereits angebrochen zu sein scheint.
Orwell’sches wie ein Sozial-Kredit-System oder flächendeckende Gesichtserkennung kommt der Regierung in Peking und großen Teilen der Bevölkerung dabei ähnlich wenig dystopisch vor wie den USA einst die Verheißungen der Atomkraft. Doch es gibt auch in China Menschen, die den technologischen Fortschritt und das Diktat vom ewigen Wachstum als fragwürdig und sogar beängstigend erleben.
Der Science-Fiction-Autor Chen Qiufan gilt seit seinem Öko-Thriller „Die Siliziuminsel“ als ihr Chronist. Der Roman, 2019 auch auf Deutsch erschienen, spielt auf einer abfallverseuchten Insel vor der chinesischen Küste. „Die Luft, das Wasser, der Boden und die Menschen, alles ist schon zu lange im Müll versunken. Manchmal können wir gar nicht mehr unterscheiden, was Müll ist und was nicht“, legt er einem seiner Protagonisten in den Mund.
Seine Geschichten, die meist in einer nahen Zukunft spielen, betrachtet Chen als „anthropologische Feldforschung“. Für die Recherchen zu seinem Buch ließ sich der Schriftsteller mit den ebenmäßigen, fast cyborgartigen Gesichtszügen für einige Zeit in der südostchinesischen Kleinstadt Guiyu nieder, wo sich jahrzehntelang die weltweit größte Müllkippe für Elektroschrott befand. China war bis zum Frühjahr 2018 der größte Importeur von Abfall. Dann gab die Regierung bekannt, nicht mehr auf die Recycling-Rohstoffe aus dem Ausland angewiesen zu sein und die Importe einzuschränken. Trotzdem leben noch immer zigtausende Wanderarbeiter davon, die Mülldünen nach Verwertbarem zu durchforsten.
Der Traum vom endlosen Konsum
In Chens Roman werden die „Müllmenschen“ selbst zur Ressource, um die die reichen Industrienationen und lokale Mafiaclans unerbittlich kämpfen. „Science-Fiction ist für mich ein Werkzeug, um die Menschen aus ihrem Traum vom endlosen Konsum aufzuwecken“, sagt der Autor, der 1981 in der südlichen Stadt Shantou geboren wurde, einer jener vier Sonderwirtschaftszonen, mit denen der Reformer Deng Xiaoping dem Land damals nach der verheerenden Kulturrevolution den Weg zu seinem beispiellosen Wirtschaftsboom ebnete.
Dengs Losung von „Reich werden ist ruhmreich“ entfesselte nicht nur die Privatwirtschaft, sondern auch Korruption, Ungleichheit und Umweltverschmutzung. „In den letzten vier Jahrzehnten haben wir versucht, das Leben der Amerikaner zu leben, aber wir sind nun mal 1,4 Milliarden Menschen“, resümiert Chen. „Der Spätkapitalismus lässt uns dabei glauben, dass die Technologie Lösungen für all unsere Probleme bringt. Ich denke jedoch, dass sie für unsere Gesellschaft auch eine Menge mentaler und spiritueller Herausforderungen bereithält. Wir Chinesen versuchen alles, um auf den Zug des Fortschritts aufzuspringen, auch wenn es uns erschöpft.“
Vor seiner Karriere als Schriftsteller arbeitete der 39-Jährige selbst in der Tech-Industrie, entwarf Marketingkampagnen für Google China und den chinesischen Wettbewerber Baidu. „Meine Liebe zu Science-Fiction hat mich in die Tech-Welt getrieben und nicht umgekehrt“, erklärt der Absolvent der renommierten Peking Universität, der von Kritikern bereits als William Gibson Chinas bezeichnet wird. „Im gegenwärtigen China gilt Science-Fiction als ‚Literatur der Ideen‘. Für mich ist sie aber vor allem ein Brennglas, um unsere Gegenwart besser zu verstehen.“
Primitive ethische Standards
Seit er dem Tech-Business 2017 den Rücken kehrte, um sich ganz dem Schreiben zu widmen, gilt Chen in seiner Heimat als eine Art Orakel für die Chancen und Gefahren des Fortschritts. Regelmäßig wird er zu Panels eingeladen, wo er auf Augenhöhe mit Wirtschaftsprofessoren und Physikern in die Glaskugel blickt. „Wir brauchen mehr Perspektiven aus den Geisteswissenschaften, um zu einem Konsens zu kommen, welche Kriterien wir an die Entwicklung neuer Technologien anlegen“, sagt er. Die ethischen Standards vieler Tech-Unternehmen seien heute „geradezu primitiv“. „Die Welt ist als Ganzes hochgradig ineinander verwoben und unberechenbar, wie es die Quantenphysik beschreibt. Wir sind mehr als Daten und Persönlichkeitsprofile.“
Im September erscheint Chens Buch „AI 2041“, das er zusammen mit dem in Taiwan geborenen amerikanischen KI-Guru Kai-Fu Lee geschrieben hat. Dort wird „Science“ und „Fiction“ sprichwörtlich miteinander verwoben. Der Computerwissenschaftler und milliardenschwere Start-up-Investor Lee, der mit seinem Buch „AI Superpowers“ vor drei Jahren einen internationalen Bestseller landete, analysiert darin den Stand der Technik, während Chen die potenziellen Möglichkeiten der KI zu zehn Zukunftsvisionen weiterspinnt, die sich unter anderem um „genetisches Handlesen“ oder eine komplett kontaktlose Gesellschaft drehen.
Abhängig von Algorithmen
„Ich habe das Gefühl, dass wir schon heute viele unserer Entscheidungen und Verhaltensweisen von Algorithmen abhängig machen“, sagt er. „In vielerlei Hinsicht werden wir dabei genau wie unsere Geräte – effizient, optimierbar und in einem endlosen Zyklus der Produktivität gefangen. Niemand weiß, wohin das führt.“
Dass sich eine im Silicon Valley bewunderte Tech-Koryphäe wie Kai-Fu Lee mit einem chinesischen Science-Fiction-Autor zusammentut, zeigt, was für einen Einfluss das Zukunfts-Genre mittlerweile auch im Ausland hat. Netflix arbeitet derzeit etwa mit den „Game of Thrones“-Drehbuchautoren David Benioff und D. B. Weiss an einer millionenschweren Serien-Adaption von Liu Cixins Trisolaris-Trilogie, für die die beiden sogar ein Angebot am neuen „Star Wars“-Film sausen ließen. Auch Chen steht in Gesprächen mit Regisseuren im In-und Ausland. „Ich möchte, dass meine Geschichten in guten Händen liegen.“
Peking kommt die Popularität der heimischen Science-Fiction entgegen, um die staatliche Agenda vom Fortschritt durch Technik zu pushen. Im vergangenen Sommer gaben Chinas Filmbehörden ein Regelwerk für die Produktion von Science-Fiction-Filmen heraus, in denen die Regisseure aufgefordert werden, „chinesische Werte zu betonen“, „chinesische Innovationen zu fördern“ und „das Xi-Jinping-Denken umzusetzen“.
Auf dünnem Eis
„Die Regierung hat erkannt, dass sie Science-Fiction als Soft Power-Tool nutzen kann. Aber es braucht Zeit und eine angemessene Atmosphäre, um die Industrie wirklich zu fördern“, sagt Chen vorsichtig. Er weiß, dass er sich mit seinen Romanen auf dünnem Eis bewegt. Wenn er mit Regierungsvertretern spreche, betone er stets die Bedeutung der Science-Fiction als Instrument zur Stärkung von kreativem Denken und Innovation.
Die Sozialkritik und der Klassenkampf auf der „Siliziuminsel“ könne man auch als Kritik am globalen Konsumismus lesen, sagt er. Und die Gefahren der KI in „AI 2041“ betreffen alle Menschen gleichermaßen, weswegen er die Geschichten bewusst in zehn verschiedenen Ländern der Erde angesiedelt habe. „Als Science-Fiction-Autoren stellen wir uns das Ende der Welt vor – mit dem Ziel, es rechtzeitig zu vermeiden.“