Lang lebe die Kröte: Jiang Zemin in Chinas Pop-Kultur
Jiang Zemin hatte in den vergangenen Jahren vor allem unter Chinas jungen Internetnutzern Kultstatus erlangt. Die Kröte, wie er von ihnen liebevoll genannt wird, repräsentiert für sie ein selbstironisches, weltoffenes China, das unter seinen Nachfolgern Hu Jintao und Xi Jinping verlorenen gegangen ist.
In Chinas Social-Media-Welt hat Jiang Zemin in den vergangenen Jahren Kultstatus erlangt. Auf Wechat und anderen Kanälen zirkulieren tausende Sticker, GIFs und Memes mit dem Konterfei des ehemaligen Staatschefs: Jiang, der gähnt, spitzbübisch grinst, wie ein Rattenfänger Querflöte spielt oder mit bloßem Fingerzeig eine Atombombe zündet. Selbst die lächerlichsten davon werden nicht zensiert, im Gegenteil. In China ist Jiang Zemin ein wichtiger Teil der Pop-Kultur.
Die beiden Spitznamen, die vor allem junge Internet-User ihm gegeben haben, oszillieren zwischen Bewunderung und liebevollem Spott: Jiang Zemin, „der Ältere“ 长者 oder, wegen vermeintlicher äußerer Ähnlichkeiten, einfach nur 蛤, „die Kröte“. Für die Jiang-Verehrung in Chinas Internet hat sich sogar ein Name etabliert: 膜蛤 – „Krötenverehrung„. Die Kröten-Fans 蛤丝 oder Krötenmagier „膜法师“, wie sie sich auch nennen, gelten als elitärer Zirkel: Sie sind patriotisch, kennen sich mit der jüngsten Geschichte und Außenpolitik der Volksrepublik bestens aus. Gleichzeitig sind sie keine blinden Befürworter von allem, was die Partei so macht. Die comichafte Überzeichnung von Jiang Zemin kann so auch als ironische Brechung des politischen Personenkultes gewertet werden, der unter Xi Jinping eine Wiedergeburt erlebt.
Der ruppige Opa im Rampenlicht
Jiangs politisches Vermächtnis spielt bei der Kröten-Verehrung keine wichtige Rolle. Für die überwiegend jungen Fans, die seine Regierungszeit allenfalls als Kinder miterlebt haben, ruft der mal ruppige und mal joviale Stil Jiangs eher eine diffuse Nostalgie nach einem irgendwie lockereren China hervor. Jiang ist der unverwüstliche Opa, der beim Frühlingsfest ohne mit der Wimper zu zucken und mit trockenem Humor das Essen kommentiert oder in schallendes Lachen ausbricht, wenn die Enkelin ihre neue Frisur vorführt.
Im echten Leben hat Jiang nie den großen Auftritt gescheut. Er hatte keine Angst, vor den Augen der Welt zu improvisieren. Auf einer USA-Reise 1997 spielte er in Honolulu auf einem lokalen Instrument “Aloha Hawaii”. Bei einem Staatsbesuch in Frankreich wagte er 1999 ein Tänzchen mit der damaligen First Lady Bernadette Chirac.
Jiangs Nachfolger bleiben farblos
Im Gegensatz zu Jiang ist bei Xi Jinping heute jeder Auftritt bis ins Detail festgelegt. Das Letzte, was der starke Mann Chinas möchte, ist, sich öffentlich eine Blöße geben, wie Jonny Erling vor einigen Wochen treffend in seiner Kolumne auf China.Table schrieb. Jiangs Nachfolger können in den Augen der Jiang-Verehrer deshalb nur farblos wirken. Hätte man Jiang Zemin beim Parteikongress dieses Jahr so würdelos aus dem Saal geführt wie Hu, wäre der Aufschrei in China sicherlich um einiges größer gewesen.
Für seine Fans repräsentierte Jiang auch eine gewisse Weltoffenheit, die unter seinen Nachfolgern verloren gegangen ist. Der weitgereiste Staatsführer gab Interviews mit ausländischen Journalisten und sprach dabei bisweilen sogar Englisch. In einem Interview mit dem US-Starreporter Mike Wallace zitierte Jiang im Jahr 2000 etwa aus Abraham Lincolns Gettysburg-Rede. Überhaupt genießt Jiangs selbstbewusster Umgang mit der Presse in China Bewunderung. So kanzelte er die bekannte Hongkonger Journalistin Sharon Cheung einst auf Englisch mit den Worten ab, die Presse in der ehemaligen Kronkolonie sei „too young, too simple, sometimes naive“. Der Satz ist nicht nur unter den Krötenverehrern zum geflügelten Wort geworden, um jemanden zu diskreditieren.
Nun, nach seinem Tod am Mittwoch, trauern die Chinesen erwartungsgemäß, indem sie Memes teilen. Eines zeigt die quadratische Brille des Verblichenen, darunter ein Zitat von ihm, das gerne in Messengern zur Verwendung kommt, wenn man Freunden einen weisen Rat erteilen will: 一点人生的经验 – „Ein kleines bisschen Lebenserfahrung“.