Platten und Parfum
„Kenn‘ ich dich vielleicht aus dem Fernsehen?“ Der Ladendetektiv wollte offenbar witzig sein. Gleichzeitig hielt er mich fest am Ärmel. „Du kommst jeden Tag hierher, um Platten zu kaufen. Woher hast du eigentlich das ganze Geld? Bist du berühmt, oder was?“ „Ich trage Zeitungen aus“, antwortete ich kleinlaut. Das stimmte – aber nur zur Hälfte. Teile des Geldes, das ich Mitte der 90er im Drogeriemarkt Müller in Musik investierte, hatte ich aus dem Portemonnaie meines Vaters geklaut. Aber immer nur so viel, dass es maximal für die Nice Price-Versionen reichte. Auch wenn der Detektiv nichts gegen mich in der Hand hatte, fühlte ich mich ertappt. Ein Hausverbot bekam ich zum Glück nicht. Es hätte mich musikalisch trockengelegt.
In der baden-württembergischen Stadt Singen am Hohentwiel, in der ich zur Schule ging, war der Drogeriemarkt Müller der einzige Ort, um unkompliziert an Musik zu kommen. Im Erdgeschoss gab es Parfum, Shampoo und Haushaltswaren. Dort lief ich mit angehaltenem Atem vorbei, auf die verspiegelten Treppen zu, die in den ersten Stock führten. Hier warteten Neuerscheinungen und Klassiker der Popgeschichte auf mich. Es war gerade die Zeit, als die CD endgültig die Regale übernommen hatte. Vinyl gab es auch noch, in einer Kiste hinten neben der Tür zum Lager. Der Inhalt bestand größtenteils aus Restposten. Meine erste LP habe ich dort dem Cover nach gekauft, um sie auf dem Plattenspieler meines großen Bruders abzuspielen – „Take The World By Storm“ von einer obskuren amerikanischen Hairspray-Metal-Band namens Slave Raider. Ich besitze sie noch heute.
Ein Grund, warum Müller in der Hegaustraße 24 für mich und viele andere jahrelang ein Mekka war, lag auch am dort angestellten Verkaufsberater Ingo, Ingo Pohl. Ingo war ungefähr so alt wie mein Bruder, also knapp fünf Jahre älter als ich. Er trug die Haare futuristisch, schwarz gefärbt und oberhalb der gepiercten Augenbrauen spitz zulaufend, eine Art Mickey-Mouse-Haube, nur ohne die Mausohren. Der Komiker Ingo Appelt hatte eine ähnliche Frisur zu seinem Trademark gemacht. Bei „Müller-Ingo“ kam die Inspiration aber offenbar aus der Rave-Kultur, das hatte ich mir anhand einiger Indizien zusammengereimt. Wer genau das stilistische Vorbild war und ob es überhaupt eines gab, weiß ich aber bis heute nicht so genau. Mit seiner Subkultur-Frisur und seinen zwei Metern Körpergröße war Ingo hinter der Ladentheke eine imposante Erscheinung. Meine Klassenkameraden nannten ihn Mister Spock. Und ich tat es auch. Aber das war zumindest in meinem Fall nicht abschätzig gemeint. Es imponierte mir eher, dass Ingo sich traute, im kleinstädtischen Einerlei so außerirdisch auszusehen. Die farblose Industriestadt Singen zwischen Bodensee und Schweizer Grenze war höchstens bekannt für ihre mittelalterliche Festungsruine und den Hauptsitz der Maggi-Werke, wegen denen die Sommerluft an heißen Tagen nach Suppenwürfeln roch. Sonst war hier nicht viel zu erleben.
Ich wollte raus in die Welt, seit ich denken kann. Den Dialekt meiner Heimat habe ich nie gelernt. Auch Ingo sprach den alemannischen Zungenschlag der Hegau-Region nicht. Er stammt aus Berlin-Buch, einem Ortsteil des einst von Udo Lindenberg besungenen Pankow. Ende der 80er-Jahre war seine Familie aus dem Osten geflohen. Einer jener Verwandtenbesuche, bei denen man Dokumente und Erbstücke zwischen der Wechselwäsche versteckt und nie mehr wiederkehrt. So landete Ingo im südlichsten Süddeutschland, wo popkulturell niemand jemals etwas gerissen hat. Seine Großeltern blieben in Berlin und Ingo kam sie nach dem Mauerfall oft besuchen. Vielleicht war er deshalb offener für die urbanen Versprechungen von Musk. Seine Lieblingsplatten kamen aus Orten wie Bristol oder London, intellektuell herausfordernde Elektronik aus der Warp-Schmiede, von Aphex Twin über Autechre bis zu Squarepusher. Und das war nicht alles: In seiner Freizeit legte Ingo unter dem Namen DJ Neuro selbst Platten auf, nachts im Niemandsland der Grenzwälder, wo man auf Gras und Ecstasy zu Goa-Trance tanzte. Zumindest hieß es das. Daran teilgenommen habe ich nie. Ich mochte die Smashing Pumpkins, Tocotronic und den Lavalampen-Lounge von Airs „Moon Safari“. Ingo legte mir Fortgeschritteneres wie Boards Of Canada und Amon Tobin ans Herz, aber auch Indie-Geheimtipps wie Cornelius aus Tokio. Längere Gespräche mit ihm zu führen, traute ich mich nicht, aus Angst, zu entblößen, dass ich weniger über Musik wusste als er. Als wir uns für diesen Artikel das erste Mal seit Jahren sehen und vermutlich zum ersten Mal lange unterhalten, ist es ein bisschen, als gestünde man eine Teenagerliebe im sicheren Abstand vorbeigezogener Jahre. Ingo grinst, als ich ihm erzähle, wie er damals auf mich wirkte. „Das ist tatsächlich oft passiert. Leute, die mich nicht kannten, sagten später: ich dachte du wärst ganz anders.“ Es habe sogar Kinder gegeben, die sich aus Angst vor ihm hinter den Regalen versteckten, wenn die Eltern an der Kasse standen, „weil ich für die so einen Gruftie-Look hatte. Aber natürlich war ich kein Gruftie. Ich weiß auch gar nicht mehr, wie ich auf die Frisur gekommen bin“, sagt er und lacht. 25 Jahre arbeitet Ingo jetzt bei Müller. 25 Jahre hat es gedauert, bis er mir nahbar erscheint.
Als ich aufs Gymnasium kam, beendete Ingo gerade eine Ausbildung zum Textillaborant. Weil er auf dem Weg zur Ausbildungsstätte zwischen zwei Zugfahrten oft Zeit totschlagen musste, ging er regelmäßig zu Müller. „Diese halbe Stunde habe ich in der Medienabteilung totgeschlagen. Die waren zumindest für meine damaligen Bedürfnisse schon recht gut aufgestellt“. Natürlich fragte er auch hin-und wieder, ob man ihm nicht dieses und jenes bestellen könnte. Eines Tages sprach ihn wiederum der Abteilungsleiter an: „Sag mal, willst du nicht bei uns anfangen? Du bist doch eh schon jeden tag hier.“ Nächstes Jahr findet für Ingo und andere Müller-Jubilare eine Ehrenfeier in der Firmenzentrale in Ulm statt. Vermutlich gibt es dann den obligatorischen Gutschein und ein Dankesschreiben mit Original-Unterschrift von Erwin Müller, dem Gründer und Firmenpatriarch, der das Unternehmen nach einigen abgesetzten Nachfolgern im stolzen Alter von 92 noch immer leitet. Platten gibt es in Müllers Drogeriemärkten seit 1977, die erste Filiale, die mit einer solchen Abteilung ausgestattet wurde, liegt in Heidenheim an der Grenze zu Bayern. Warum Erwin Müller das Gefühl hatte, dass seine Drogeriemärkte auch Plattenläden sein sollten, und welche Musik er selbst gerne hört, ist nicht überliefert. Die Presseabteilung lehnte alle Anfragen für diesen Artikel ab. Fakt bleibt, dass die Medienecke von Müller vor dem Auftauchen von Mediamarkt und Saturn der einzige Zufluchtsort für musikliebende Landeier wie mich war. Das Konstanzer „Studio 1“, der nächstgelegene klassische Plattenladen lag von meinem Heimatdorf Randegg über anderthalb Stunden entfernt, Wartezeiten an entlegenen Haltestellen nicht einberechnet. Natürlich waren die Drogeriemärkte von Müller gleichförmige Orte, die wie auch Karstadt den Mief der alten BRD atmeten, aus dem ich ja eigentlich entfliehen wollte. Und auch vom Parfumgeruch bekomme ich dort bis heute Kopfschmerzen. Aber mein Müller hatte ja Ingo, und der brauchte die Expertise und Ausstrahlung eines echten Plattenhändlers rein. Wenn man etwas suchte, das selbst er nicht kannte, drehte er den Computerbildschirm um und ließ einen durch die Liste scrollen. Wenn man eine Melodie im Kopf hatte, aber den Titel nicht wusste, konnte man ihm etwas vorsummen und die Chancen standen nicht schlecht, dass er es erkannte. Wenn ein Album nicht im System verzeichnet war, rief er auch schon mal direkt beim Label an und fragte nach den Lieferkonditionen. Nicht wenige seiner Stammkunden kauften die Alben ungehört, wenn Ingo sie ihnen empfohlen hatte. „Sie meinten: Wenn du das sagst, wird es schon passen. Das hat es das letzte Mal auch.“ Ein dünkelhafter Gatekeeper von Geheimwissen war Ingo nie, im Gegenteil: Hier wurde schließlich Umsatz für einen europaweit operierenden Konzern erwirtschaftet. Den Gesetzen des Marktes unterlag auch Ingo täglich. Wenn er zu lange mit einem Kunden plauderte oder zu sorgsam die Regale pflegte, schaute der Filialleiter schon mal argwöhnisch oder stellte ihn zur Rede: ‚An der Kasse warten Kunden, die bezahlen möchten.‘ Trotzdem sprach sich auch im Unternehmen herum, dass hier eine Credibility herrschte, die andere Müllerfilialen nicht hatten. „Auch wenn die Medienbestellung zentral gesteuert wurde, hatte ich einige Verantwortung”, erinnert sich Ingo. Wenn ein Künstler zum Beispiel seiner Ansicht nach falsch einsortiert war, rief er in der Zentrale an und bat um Berichtigung, So kam es immer wieder vor, dass dank ihm bundesweit die Regale neu sortiert wurden und ein Nick Cave bei Alternative landete und nicht mehr bei Pop. „Ich würde sogar behaupten, dass ich da relativ viel Einfluss hatte. Andere waren da nie so hinerher.”
Sein Ruf drang irgendwann sogar bis zur Führungsebene durch. Einmal kam ein hohes Tier aus der Zentrale nach Singen. „In der Hierarchie so ungefähr eine Position unter Erwin Müller“, erinnert sich Ingo. „ich hatte gerade Pause als mein Chef mich ausrufen ließ: „Hier will dich jemand sehen.“ Der Besucher aus Ulm sagte: ‚Ah, Sie sind dieser Herr Pohl, der den Laden hier am Laufen hält‘. „Jemand muss mich da oben erwähnt haben“, sagt Ingo. Erwin Müller hat er nur einmal persönlich getroffen, als dieser bei einem routinemäßigen Besuch in Singen vorbeischaute. Es muss ein interessantes Bild gewesen sein, als er zum Händeschütteln bei Ingo ankam: Der 1Meter 60 große Firmenpatriarch und der zwei Meter große Schlaks.
Auch wenn Müller nicht der coolste Arbeitsplatz der Welt war: Solche Dinge schafften Genugtuung. Und Ingo hat ja auch wirklich alles gestemmt, was man in so einer Müller-Medienabteilung zu stemmen hatte. Er erinnert sich an Stapel mit den neuesten Bravo-Hits, die in der Erscheinungswoche weggingen wie warmes Brot. An Alben, auf die sich anscheinend ganz Deutschland einigen konnte, zum Beispiel Herbert Grönemeyers „Mensch“. Daran, wie er für viele Jahre jede Woche per Hand die Charts in den Regalen abbilden musste, „von Platz 1 bis 100 bei den Alben und bei den Singles”. „Es war schon traurig, wie unsere Musikabteilung mit der Zeit immer radikaler verkleinert wurde”, sagt er. Zuerst aufgrund des DVD-Booms, dann aufgrund von Spielwaren, die mit dem Musiksortiment zusammengelegt wurden. „Eigentlich wäre das eine interessante Grafik, wie sich die einzelnen Abteilungen über die Jahre bis zum Verschwinden verkleinert und dann wieder vergrößert haben“, sagt Ingo.
Dass Vinyl in den Nullerjahren auch bei Müller ein Comeback feierte, und plötzlich wieder raumgreifend in den Regalen thronte, war wie ein Glitch in der Matrix. „Das hat mich gefreut. Alles was dem Streamingmarkt die Stirn bietet, finde ich gut”. Eine positive Überraschung war auch, dass wieder junge Leute im Laden auftauchten, um Musik zu kaufen. Das waren bei Müller aber nicht in erster Linie Sammler und Hi-Fi-Nerds sondern oftmals Schülerinnen und Schüler, die nach bestimmten Künstlern suchten. „Manche kamen rein und machten auch einfach nur Fotos von den Platten, vielleicht um sie später auf Spotify oder Apple-Musik anzuhören.“ Fankultur-Items von Taylor Swift oder K-Pop-Gruppen wie BTS, die in unzähligen Editionen und Varianten auf den Markt kommen, sind bei ihnen bis heute gefragt und werden ständig nachgeliefert. „Wenn man davon alle haben will, muss man tief in den Geldbeutel greifen“, sagt Ingo etwas resigniert. Aber auch das gehört zum Job. Man ist hier schließlich nicht in Nick Hornbys High-Fidelity, wo man als verantwortungsbewusster Geschmackstürsteher auch mal “Nein” sagen müsste. Der Kunde ist König. Vergleichen mit früher könne man die Nachfrage ohnehin nicht, sagt Ingo. „Die fetten Jahre sind auf jeden Fall vorbei.” Vor zwei Jahren ist der Laden umgezogen, in eine Allzweck-Mall mit DM und Decathlon gegenüber vom Hauptbahnhof. Die Musikabteilung ist jetzt noch kleiner als vorher. „Es kommen vor allem die Basics rein. Immerhin haben sie nicht gesagt, wir machen ganz dicht”. Einige Stammkunden halten Ingo aber auch am neuen Standort die Treue. Da ist zum Beispiel Martin Stett, 54 und Metal-Fan. Er kauft seit vielen Jahren seine Musik bei Müller. „In Singen gab es lange immer nur drei Geschäfte, bei denen man Platten kaufen könnte: Karstadt, Schellhammer und Müller”, erklärt er. “Bei Karstadt war die Auswahl nicht so gut, Schellhammert oft teurer. Ausserdem konnte man bei Müller auch immer in die Platten und CDs reinhören. Das endete erst, als Corona kam.” Der gelernte Schreiner und hauptberufliche Fensterbauer kommt oft direkt in Arbeitskluft in den Laden und tätig Bestellungen im Voraus. “Online bestelle ich nicht gerne, weil mir der persönliche Kontakt gefällt. Man kann sich vor Ort über Neuerscheinungen oder Konzerte austauschen.” Und natürlich spielt auch Ingo eine Rolle, der sich in Genres auskennt, die er selbst nicht unbedingt hört. “Ingo gilt bei uns Multimedia-Fans in Singen als der Beste.” Wobei Stett auch schon lange vor Ingos Zeit gute Erfahrungen mit dem hiesigen Drogeriemarkt gemacht hat, wie er sich erinnert. “In den 1980ern hatte Müller immer nur bis 18:30 Uhr geöffnet, aber ein Kumpel von mir und ich durften ab und zu auch auch länger bleiben und in der Plattenabteilung in neue Scheiben reinhören – über Lautsprecher. Im Gegenzug gaben wir dem Verkäufer Tipps, was so im Metalbereich angesagt ist.” Jochen Schmid, ein anderer von Ingos alten Kunden, wohnt seit Jahren schon in München, schaut aber immer noch bei bei Müller vorbei, wenn er in der Gegend seine Mutter besucht. “Ich komme auch, wenn ich nichts brauche, einfach zum Plaudern. Und lerne durch Ingo immer noch neue Künstler kennen.” Der gelernte Luft und Raumfahrtingenieur hat so etwa Kurt Vile lieben gelernt. Leider sei das Sortiment im Gegensatz zu großen Müllerfilialen wie im Münchner Tal über die Jahre immer beliebiger geworden. “Das macht eigentlich keinen Spaß mehr”, sagt der 80er-Jahre-Fan. “Trotzdem: Ingo strahlt noch immer eine große Herzlichkeit aus, und deshalb komme ich ihn gerne besuchen.” Auch Harald Petz, ein früherer Stammkunde aus dem 12 Kilometer entfernten Engen, bedauert, wie sehr sich die Auswahl verkleinert hat. “Vor dem Erfolg der Streamingdienstewar Müller ein Riesenladen und der einzige Ort, wo ich meinen Musikhunger stillen konnte. Und jedes Mal wen ich kam, hat Ingo mich sehr gut beraten. Ich habe seine Empfehlungen oft einfach mitgenommen, denn er kannte meinen Geschmack. Und meistens waren das dann auch echte Volltreffer jenseits der Kommerzschiene. Ingo war was das anging schon der Kracher”, sagt der 63-Jährige.
Ob Ingo bei all dem Lob und den erschwerten Bedingungen nicht auch mal daran gedacht hat, sich als Plattenhändler selbstständig zu machen?„Ein Kumpel von mir hatte tatsächlich mal die Idee, dass wir selbst etwas aufmachen könnten. Ich hielt das aber schon damals für schwierig, aufgrund der Konkurrenz durch Müller und auch Mediamarkt. Die können eben doch andere Preise und Margen aushandeln”, sagt er und fügt lächelnd hinzu: “Außerdem bin ich nicht gerade ein risikofreudiger Typ”. Er weiß: In einem regulären Plattenladen hätte er nicht über Jahre diese finanzelle Stabilität und Kontinuität erleben können. Oder so etwas wie eine Karriere. Im Mai 2012 wurde er in Singen zum Abteilungsleiter ernannt, musste plötzlich Hemden tragen und ein Team delegieren: „Tagesabschluss, Laden morgens aufschliessen, Geld aus den Kassen abschöpfen und so weiter. Man ist nie fertig geworden, am Ende der Woche war ich total kaputt.“ Während er zum ersten Mal wirklich mit seinem Job haderte, eröffnete sich plötzlich ein neuer Karrierehorizont. Um das Jahr 2018 brachte ihm eines seiner Hobbys plötzlich Internet-Berühmtheit ein. Seine Digitalkunstwerke, die er nach der Arbeit und am Wochenende mit dem Programm Cinema4D erstellt, trafen einen Nerv. Allein auf Instagram folgten ihm zeitweise über 100.000 Menschen. Und auch Firmen wie Apple in Japan wurden auf ihn aufmerksam und boten ihm ein paar lukrative Aufträge an. “Eine Zeitlang hatte ich schon überlegt, in diese Richtung zu wechseln und hatte auch schon mal geguckt, ob es Stellen im 3D-Design gibt für jemanden wie mich. Aber die meisten haben eher nach Leuten gesucht, die Animationen machen, zum Beispiel bei Werbeagenturen oder beim Film.”
Am Ende blieb Ingo Müller treu, stufte seine Stunden aber von 170 auf 140 runter, was ihn wieder zum normalen Verkaufsberater machte. Nach ungefähr drei Monaten ging ein Kollege in Elternzeit und Ingo übernahm wieder mehr Veranwtortung .“Ich habe mich jetzt ganz gut damit eingependelt. Wir sind ein gutes Team hier”, sagt er. Er bedauert jedoch, dass in seinem Arbeitsalltag für die Musik kaum noch Platz ist – sprichwörtlich. “Früher war jede Lieferung für mich wie eine Wundertüte, ich war ja Verkäufer und Kunde zugleich und selbst ebenso gespannt auf all die Neuheiten, die jede Woche eintrudelten. Auf manches freute man sich. Anderes waren positive Überraschungen und Neuentdeckungen, die man dann auch wieder weiter empfehlen konnte.” Platten zu empfehlen ist heute kaum noch Teil seines Jobs. “In Zeiten von Spotify fragt fast niemand mehr nach einem Tipp vom Verkäufer. Das erledigt der Algorithmus.” Und auch im Unternehmen selbst interessiert sich kaum noch jemand für seine einstige Kernkompetenz. “Heutzutage wird alles noch mehr zentralseitig gesteuert. Da bleibt für den Verkäufer selbst nur noch wenig Einfluss. Und durch das kleinere Sortiment ist auch ein großes Musikwissen nicht mehr so wichtig.”
Doch es gibt auch immer noch Blickblicke. „Für eine Weile kam eine junge Frau in den Laden, die nach recht speziellen Sachen gefragt hat. Die war auch dankbar für den einen oder anderen Tipp. Ich habe ihr zum Beispiel Alben von John Maus empfohlen.“ Leider sei sie schon länger nicht mehr da gewesen. „Vielleicht zum Studieren in eine andere Stadt gezogen“. So wie ich damals.Nach dem Abi verließ ich die Gegend, zog nach Freiburg, München und schließlich nach Berlin, wo wir uns an einem Spätsommertag für diese Geschichte treffen. Ingo wirkt mit seinen 47 Jahren jung geblieben. Die Haare trägt er jetzt sorgfältig gescheitelt, aber der coole Subkultur-Kenner blitzt noch immer durch. Zwischen meinen Fragen fachsimpeln wir über den Zustand der Popkultur und unsere liebsten Alben der vergangenen Jahre. Wir hätten uns eigentlich schon früher die Bälle so zuspielen können, denke ich. Doch dazu ist es nie gekommen. Das letzte Mal etwas bei ihm gekauft habe ich im Frühjahr 2015. Ich hatte gerade die Wohnung meines Vaters ausgeräumt, der überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war. Meine letzte Verbindung zur Heimat war mit seinem Tod gekappt, dachte ich. Als alles erledigt war, ging ich, kurz bevor mein Zug abfuhr, zu Müller und kaufte in einer Art Abschiedsritual „Carrie und Lowell“ von Sufjan Stevens. Ich hatte es bis dahin vermieden, das neue Album auf einem Streamingdienst anzuhören, denn ich wusste, dass Stevens den Tod seiner Mutter und die Beziehung zu seinen Eltern darauf verarbeitete. Ich wollte mir für dieses Album Zeit nehmen, und so auch gleichzeitig Zeit für mich selbst. Ich erzählte Ingo davon – wohl das erste Mal, dass ich ihm etwas so Persönliches anvertraute. Ich wusste, dass er meinen Vater gekannt hatte. Auch er war bei ihm Kunde gewesen, hatte seine geliebten Boss-Hoss-CDs bei Müller gekauft. Dabei hatte er Ingo auch einmal erzählt, dass ich in Berlin ein Volontariat als Musikjournalist angefangen hatte. Ich hätte nicht stolzer sein können und hoffte insgeheim, dass Ingo ahnte, dass auch er einen Anteil an meiner Liebe zur Musik gehabt hatte. Als er mir behutsam die Platte über die Theke schob, sagte er respekt-und pietätvoll: „Komm immer gerne hier vorbei, wenn du in der Gegend bist. Das würde mich sehr freuen.“ Ingos Sinn für guten Geschmack galt eben immer auch für das Zwischenmenschliche.