„Hair“ im Admiralspalast: Wir würden Ritalin empfehlen

(Bild: Patrick Fore)

Was für verrückte Hühner diese Blumenkinder doch waren: Zuweilen nerven die Darsteller, doch ihre Stimmen sind durchweg groß

Der Saallicht ist noch an, da mischen die Hippies bereits das Establishment auf. Mehrere Mitglieder des Ensembles der New Yorker Broadway Musical Company gehen zwischen den Sitzreihen entlang, reiben sich an Gästen oder vergeben Komplimente. Eine junge Sängerin zeigt stolz ihre behaarten Achselhöhlen vor, ein älteres Paar macht ein Foto. Das ist er wohl, der nonkonformistische Geist des berühmtesten Musicals der Gegenkultur, das heute Abend im Admiralspalast wieder aufleben darf. Die idealistischen Hippies und die Menschen, die sie auf der Bühne spielten, waren ja tatsächlich mal ein kurzes Zeitfenster lang identisch, das sich bald nach 1968, dem Jahr der Uraufführung, aber wieder schloss. Seitdem gleicht jede „Hair“-Vorführung in der Regel einem Kostümfest, auch Miloš Formans Verfilmung aus dem Jahr 1979, wo der Geist der ausklingenden 70er in den zurechtgeföhnten Frisuren und Treat Williams buschiger Brustbehaarung immer spürbar blieb.

Seine Figur ist auch eher als Rüpel denn als Revolutionär angelegt

Die 16-köpfige Truppe, die heute Abend auf der Bühne steht, ist mit ihren gedruckten Batik-Shirts, den Langhaar-Perücken und John-Lennon-Brillen in etwa so authentisch wie die Les Humphries Singers. Dass sich seit 1968 viel in der Popkultur getan hat, merkt man am besten an den eigenen Assoziationen. So sieht der von Brett Davis verkörperte Alphatier-Hippie Berger mit seinen langen Locken, der Jeans-Weste, den Koteletten und dem kleinen Bäuchlein ziemlich genau aus wie Metallica-Sänger James Hetfield Mitte der 80er. Seine Figur ist auch eher als Rüpel denn als Revolutionär angelegt, stolz präsentiert Davis im lächerlich kurzen Lendenschurz seinen blanken Hintern, macht Furzgeräusche oder grapscht den Busen der von Jessica Dyer gespielten Feministin Sheila. Hier wird nichts nostalgisch verklärt, der Regisseur und ehemalige Darsteller Andrew Carn scheint in seiner Inszenierung eher zeigen zu wollen, was für verrückte Hühner diese Blumenkinder doch waren. Wenn sie sich in Provokationen überbieten, ins Wort fallen oder trotzig den naivsten Quatsch wiederholen wirken sie wie unartige, nervtötende Kinder. An einer Stelle werfen sie sich in einem Gemeinschaftsritual gegenseitig LSD in den Mund und man wünscht sich, es wäre Ritalin oder ein anderes Beruhigungsmittel.

Mit auf der Bühne steht eine Band aus unscheinbar aussehenden Session-Musikern, die unter dem singenden Sack Flöhe geradezu unsichtbar ist. Ohne eine Miene zu verziehen spielen sie die Musical-Klassiker des Komponisten Galt MacDermot in muckerhafter Blues-Rock-Manier, knapp 30 Songs, die von der amerikanischen Truppe in Originalsprache vorgetragen werden. Nadine Kühn, die einzige Deutsche unter den Darstellern, übersetzt sporadisch aus dem Englischen. Die von ihr gespielte schwangere Jeanie wirkt mit Kugelbauch, grünem Kleid und Turmfrisur wie eine in Marzahn gestrandete Meerjungfrau. Die Choreographie an sich ist sorgsam geordnetes Chaos, die Stimmen durchweg groß. Besonders Newcomer Devin Holloway verblüfft mit einer die Geschlechter transzendierenden Soul-Stimme, die manchmal an Prince erinnert.

Ein Faible für Räucherstäbchen und diffus fernöstliche Esoterik

Es ist der erste von fünf Berlin-Auftritten einer mehrwöchigen Städtetour. Im Publikum sitzt auch eine Gruppe junger Besucher aus Afghanistan, die sich prächtig amüsiert über die Männer in Frauenkleidern, über Berger, der einen überdimensionalen Joint raucht oder die „Hare Krishna“ skandierenden Frauen in Mönchsroben, die auf einem Sonnenwagen auf die Bühne fahren, auf dem in Kinderschrift „Shanti“ geschrieben steht. Als die beiden Hauptdarsteller Claude und Berger sich aus Versehen küssen (die Frau zwischen ihnen hatte sich im letzten Moment weggeduckt), lacht der ganze Saal gemeinsam auf. Unter all dem Slapstick sind die freiheitlichen Ideale des Stücks sicher erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Vielleicht bekommen die jungen Afghanen aber immerhin eine Ahnung davon, warum unsere Gesellschaft so ein Faible für betont schwule Typen, Räucherstäbchen und diffus fernöstliche Esoterik pflegt.

„Let the Sunshine In“ funktioniert auch in einem Retortenmusical

In der zweiten Hälfte nach der Pause wird das Tempo und die Lautstärke etwas gedrosselt, die Band integriert jetzt Pop-Elemente in ihren trockenen Rock, „Good Morning Starshine“ kommt sogar jazzig daher und würde sich so gut in den Abspann einer 80er-Jahre-Fernsehserie wie Traumschiff fügen. Das klagende „Let the Sunshine In“ funktioniert dagegen auch in einem Retortenmusical, das Drama um den gefallenen Soldaten Claude überwältigt immer noch, auch wenn der Vietnamkrieg längst vorbei ist und vom Bühnenrand Seifenblasen ins mittlerweile mitklatschende und mittanzende Publikum wehen.

Das würde man ja überhaupt gerne mal machen: die Mitglieder der Urbesetzung mit einer Zeitkapsel in die Gegenwart holen und mit ihnen zusammen dieses Stück ansehen und darüber sprechen, was daraus wurde und wie man es heute machen müsste.

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